Dienstag, 24. Mai 2011

Europa macht dicht....

von Tanja A. Wilken

Irgendwas geht um im Alten Europa. In der Schweiz wehrt sich das Volk gegen den Bau eines Minaretts, in Ungarn „patrouillieren“ Herrschaften in eigentümlichen Uniformen durch Roma-Siedlungen, Dänemark will seine Grenzen dichtmachen und ganz Europa betreibt unterlassene Hilfeleistung. Frankreichs Chef Sarkozy und Italiens Berlusconi fordern eine Verschärfung des Schengen-Abkommens und im Dienste der Sicherheit pflichtet ihnen unser Herr Friedrichs eifrig bei. Parteien mit so klangvollen Namen wie die „Wahren Finnen“, die „Dänische Volkspartei“ oder „Front National“ (Frankreich) machen sich auf, „ihre“ Länder sicherer und besser zu machen. Gutes Recht, nicht wahr? Irgendwas ist faul im Staate Dänemark. Und im Staate Frankreich. Im Staate Deutschland. Im Staate…

Dabei hatte alles einmal so gut angefangen! Frei sollte Europa sein. Stark und unabhängig. Nicht nur wirtschaftlich, auch politisch. Stolz waren wir auf unsere Kultur. Auf die historische Entwicklung. Auf Aufklärung und Demokratie. Weltoffen, tolerant, emanzipiert. Das ist Europa! Ein Zusammenschluss war nur folgerichtig. Ebenso wie offene Grenzen. Das Schengen-Abkommen von 1985 beschloss die Verteidigungsgrenzen Europas nach außen. Innere Grenzen sollte es nicht mehr geben. Es war so denn auch ein symbolischer Akt, dass sich die Mitgliedsstaaten füreinander und untereinander öffneten. Die Mobilitätsfreiheit wurde ein Grundrecht des europäischen Bürgers. Ein Zeichen der Gemeinschaft und des Vertrauens (wobei man nicht vergessen sollte, dass dieses Privileg ausgewählten Kandidaten trotz EU-Mitgliedschaft gern vorenthalten wurde. Nur ein Schelm wer böses dabei denkt, dass diese Exklusivität hauptsächlich die östlichen EU-Länder betraf). Europa sollte im besten Sinne eine „offene Gesellschaft“ sein. Zusammenhalt im Inneren, Stärke nach außen. Ein Vorbild und eine Marke für die weltpolitische Bühne.

Leider schickt sich diese Mustergesellschaft nun an, sich in eine geschlossene zu verwandeln. Und dies unter dem Deckmantel eines leicht diffusen Sicherheitsbedürfnisses. Wieso diffus? Muss sich eine Gesellschaft ihrer Feinde nicht erwehren dürfen? Sicherlich. Aber wie definiert Europa derzeit seine Feinde? Als Bootsflüchtlinge und polnische Putzfrauen. Vor letzteren fürchtete man sich, seit im letzten Jahr verkündet wurde, dass das Arbeitnehmer-freizügigkeitsgesetz in Kraft treten würde. Busseweise werden nun Billiglöhner ins Land kommen!
Nun, wir haben vielleicht genug Putzpersonal, aber ein paar zusätzliche Altenpflegekräfte würden uns sicher nicht schaden. Und die Sache mit dem Lohndumping wäre etwas, was die Politik mit genügend Anstrengung und Konzentration wohl regeln könnte…
Was die schätzungsweise etwa 34.000 Menschen betrifft, die seit Ausbruch der Kämpfe bei der Flucht aus Nordafrika in Europa landeten (davon über 25.000 in Italien): Hier muss ein wenig Zahlenspielerei erlaubt sein, um die Hysterie, die von europäischen Innenministern und Staatsoberhäuptern betrieben wird, in die richtigen Dimensionen zu lenken. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) geht von etwa 600.000 Flüchtlingen aus Nordafrika aus. Von denen kamen die meisten in den angrenzenden Ländern, wie Ägypten und Tunesien, unter. Länder, die derzeit unruhige Zeiten durchleben. Deren Behörden und besonders Bewohner sich um die Versorgung der Menschen kümmern. Kleine Dörfer nehmen bis zu 20.000 Menschen auf – ohne verzweifelt die Hände gen Himmel zu recken, wie sie denn dieser „biblischen Plage“ Herr werden können. Nur ganze 2% der Menschen aus Libyen sind in Europa aufgenommen worden! Wir reden hier von 27 Staaten und 501 Millionen Menschen. Und wir schaffen es nicht, ein paar Zehntausend Hilfesuchenden vorübergehend eine menschenwürdige Unterbringung zu bieten?

Es sind all diese Widersprüche und Ungereimtheiten, mit denen Europa operiert – und sein eigenes Bild demontiert. Wir beklagen den Fachkräftemangel, die schwachen Geburtenjahrgänge – und schließen unsere Grenzen oder melden von vornherein an, wen wir denn nun alles nicht haben wollen. Dabei bemerken wir nicht, dass schon viele uns nicht mehr haben wollen und gehen, noch ehe die Tinte auf der Diplom-Urkunde getrocknet ist. Oder was ist mit Intellektuellen, wie dem Islamkenner und –kritiker Bassam Tibi, der nach 44 Jahren in Deutschland, und etlichen davon an einer deutschen Universität, verkündete, dass er sich nie heimisch fühlte – weder im wissenschaftlichen noch im privaten Raum? Obwohl wir um unsere Schwierigkeiten beim Verstehen des Islams wissen, obwohl wir im Widerstand gegen Fundamentalisten Kenner brauchen, vergraulen wir diese aus Europa. Dieser Un-Zustand wird auch nicht dadurch verbessert, dass momentan fleißig über Migranten-Quoten in Parteien nachgedacht und immer mal wieder ein „Vorzeige-Muslim“ präsentiert wird. Dies dient weniger der Anerkennung von Muslimen als öffentlich-wirksamen Personen, als vielmehr der Selbstbeweihräucherung der Parteien: „Seht her! Wir sind gute Menschen!“ Ja, sind wir das nicht?
Wir sind moralisch, verfassungstreu, trennen unseren Müll und sind gegen AKWs. Sobald irgendwo auf der Welt wieder die Erde wackelt, schicken wir Geld. Zusätzlich zum jährlichen Weihnachtsspendenmarathon. Ganz ungefragt. Wir sind so vom Geist der Aufklärung und unseren Wertvorstellungen erfüllt, dass einem ganz warm ums Herz werden kann. Wird einem aber nicht…

Die Betonung moralischer Werte und Ideen muss einem suspekt vorkommen, sobald diese zu einer letztgültigen Anweisung werden. Nehmen wir die Beschwörung deutscher Leitkultur, besser: die Zugehörigkeit zu einer christlich-abendländischen Wertekultur. Es war eben jener Bassam Tibi, der die Leitkultur aufs Tapet brachte. Er sprach von einer „europäischen Leitkultur“, die sich angesichts des bestehenden Kulturpluralismus für eine neue europäische Identität aussprach. Natürlich müssten die Eingewanderten die jeweilige Rechtsordnung anerkennen. Aber bei der Frage, wie Integration erfolgreich gelingen kann, geht es um mehr als um Verfassungspatriotismus. Integration braucht Identität – Identität mit der neuen Gesellschaft und Kultur. Und um Identität zu erlangen, bedarf es einen Grundkonsens gemeinschaftlicher und allgemein anerkannter Werte – eben einer Leitkultur. Unter der europäischen Leitkultur verstand er eben dieses Erbe der Aufklärung, der Toleranz, des gegenseitigen Respekts. Er wollte keine Parallelgesellschaften und keinen wertebeliebigen Multikulturalismus. Religion ist Privatsache – und das soll sie auch bleiben. Im öffentlichen Raum hat sie nichts zu suchen. Und diesen Fehler begingen CDU / CSU, als sie die Leitkultur für sich entdeckten. Sie boten keine Identitätsfindung, sondern sortierten aus. Kein Migrant, wie verwurzelt er in diesem Land sein mag, egal wie lange er seinen Pass bereits hat, egal welche Anstrengungen er auch unternimmt, kann sich unter der Decke der „christlich-jüdisch-abendländischen-Tradition“ wiederfinden.

Was augenblicklich in Europa passiert, die äußere und innere Abschottung, trägt die Handschrift der Furcht vor dem Verlust der kulturellen und nationalen Identität. Wir haben Angst und machen dicht. Auf lange Sicht werden wir dafür bezahlen. Populismus schadet unserer Wirtschaft, unserer Gesellschaft, unserer Kultur. Keine Nation gedeiht ohne Einfluss. Eine offene Gesellschaft hat das Recht, sich vor ihren Feinden zu schützen. Die wahren Feinde sind Indoktrination, Verallgemeinerung, Kritikfeindlichkeit, Abkehr vom Pluralismus der Ideen. Diese Gefahren gehen nicht allein vom Islamismus aus. Sie zeigen sich durch rechtspopulistische Stimmungsmacher, schwache politische Führungen, Vorurteile und Borniertheiten.
Es ist was faul, im Staate Europa.

Mittwoch, 11. Mai 2011

Kopfschuss im Namen der Gerechtigkeit...

von Tanja A. Wilken

„Der Gerechtigkeit wurde Genüge getan“, sagte Barack Obama über die Tötung Osama Bin Ladens durch ein US-Spezialkommando am 2.Mai 2011. Israel gratulierte zu einem „historischen Tag“ und das amerikanische Volk spricht über „eine böse Kraft, die endlich weg ist“ und äußert die Hoffnung, ihr Staatsfeind Nr.1 möge nun „in der Hölle schmoren!“ Herrje, da ist sie wieder: die religiöse Phrasendrescherei, mit der schon G.W. Bush seinen Kreuzzug gegen die „Achse des Bösen“ eröffnete. Aber bleiben wir bei der „Gerechtigkeit“, die es ja nun einmal nicht nur im biblisch-alttestamentarischen, sondern auch im rechtsstaatlichen Sinne gibt. Darf ein Rechtsstaat gezielt töten?

Leider ist diese Frage nicht einfach zu beantworten. Das Völkerrecht gibt keine klare Antwort, eher läuft sie einer seit Jahrzehnten gängigen Praxis international operierender Staaten hinterher: das „targeted killing“ ist rechtlich und ethisch umstritten, aber geduldet. Ob es sich mit dem Völkerrecht deckt, hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab: Zum einen geht es darum, ob die Tötung auf eigenem oder fremden Boden geschieht und ob im Fall eines Eingriffs in einem anderen Land dessen staatliche Souveränität gewahrt wird. Pakistan schweigt bisher beharrlich dazu. Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass die Amerikaner ohne Wissen und eventuell auch Mithilfe des gut arbeitenden pakistanischen Geheimdienstes die Mission durchführten. Pakistans bisherige Beteuerungen, völlig ahnungslos gewesen zu sein, dürften eher dem Schutz vor eventuellen Repressalien dienen als der Wahrheit entsprechen. 

Der zweite Punkt betrifft die Zielperson selbst. Laut dem wenig konkret formulierten Kriegsvölkerrecht ist die Tötung eines Anführers oder Teilnehmers eines bewaffneten internationalen Konflikts zulässig. Immer vorausgesetzt, der Betroffene ist nachweislich an diesen Feindseligkeiten beteiligt. Nun meinen einige, Bin Laden habe nicht gekämpft, jedenfalls nicht zum Zeitpunkt seines Todes. Dann muss man allerdings fragen, ob jemand, der Befehle zur Ausübung von Terroranschlägen gibt, als Zivilist völkerrechtlich nicht belangt werden kann. Anders formuliert: Wird ein sich klar bekennender Terrorist und Anstifter zum Mord an Unschuldigen während der Nachtruhe oder Mittagspause zum Zivilisten, den man nicht ausschalten darf? 2009 gab ein Internationales Komitee des Roten Kreuzes ein Gutachten heraus, das diese Frage damit beantwortete, dass sich Personen wie Bin Laden durchaus zu legitimen militärischen Zielen machen – im Gegensatz beispielsweise zu bloßen Mitläufern. Bin Laden machte keine Pause vom Terroristen-Dasein. Und auch eine strafrechtlich relevante Unschuldsvermutung dürfte in seinem Fall kaum gegeben gewesen sein.

Wenn es sich auch nun nicht eindeutig klären lässt, ob die Amerikaner völkerrechtskonform oder nicht agiert haben, so steht die Frage, ob es sich bei der Aktion um eine angemessene, einem Rechtsstaat würdige Reaktion handelte, auf einem anderen Blatt. Demnach hätte man Bin Laden festnehmen und dem Internationalen Gerichtshof überantworten müssen. Aber hätten die Amerikaner ihren erklärten größten Feind tatsächlich einem Gericht (noch dazu einem nicht-amerikanischen!) übergeben und damit den Dingen ihren Lauf gelassen? Bin Laden war nicht Milošević – ein Blick in die Medien genügt, um zu sehen: dies war nach amerikanischem Selbstverständnis eine nationale Angelegenheit – „etwas Persönliches“. Kein Gerichtsverfahren der Welt hätte dem Genüge getan. Und so landet man wieder bei dem alten Rachebegriff des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, und einer Dimension der Begriffe „Recht“ und „Gerechtigkeit“, die über die völkerrechtliche hinausreicht. Nach Bushs Aufruf zum „war on terror“ pervertierten die eingesetzten Mittel des Antiterrorkampfes den Gerechtigkeitsanspruch. Recht wurde zur Vergeltung. Westliche Ethik verkam durch Foltermethoden wie das Waterboarding, durch die Verschleppung Terrorverdächtiger, Inhaftierung ohne Haftprüfung und Guantanamo zur Demagogie. Diese „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wurden nicht von einem Tyrannenstaat, sondern von einem demokratischen, sich als hoch zivilisiert betrachtenden Staat verübt. Damit wir uns nicht missverstehen: eine Demokratie muss sich ihrer Feinde erwehren dürfen. 

Bin Laden tötete ohne Skrupel Tausende „Ungläubige“ und opferte seine eigenen Religionsbrüder für den „Heiligen Krieg“. Al-Qaidas Terrorismus zielt auf die Beseitigung von Menschen, deren nationale, religiöse und kulturelle Existenz grundsätzlich abgewertet und abgelehnt wird. „In Ruhe über alles zu reden“ ist ein frommer Wunsch, der die Kluft zwischen diesen Fronten – westlicher Welt und fundamentalistischer Ideologie – nicht überbrücken wird. Wir wollen unsere Freiheit und Sicherheit verteidigen. Das ist unser Recht. Aber es sind gleichwohl die Regeln, die wir uns selbst auferlegen, die unsere Mittel hierzu letztlich gerechtfertigt erscheinen lassen. Gibt sich eine Nation selbst das Etikett des Rechts und der Moral, entscheiden die Taten über den Wert der Worte. Mehr noch: sie entscheiden über den Wert unserer Werte. Auch bei deren Verteidigung sollten wir uns dessen bewusst sein, damit wir weder unseren rechtlichen noch unseren moralischen Anspruch verlieren.