Freitag, 8. Juni 2012

Identitätsfragen ...


von Tanja A. Wilken

Der Mensch ist des Menschen Wolf
konstatierte Thomas Hobbes 1642. Wir rotten uns zusammen, um zu jagen, Territorien zu besetzen, zu stehlen und zu betrügen. Alles für die Arterhaltung. Sprache, Ethnie, Religion bilden die Grundlage für Gemeinsamkeiten, die vor allem zur Unterscheidung dienen: Kultur als identitätsstiftender Kitt, der in der Gruppe dafür Sorge trägt, dass die Feinde und Futterneider da draußen“ gesucht werden: Kulturelle Identität gleich kollektive Identität.

Aus den Grüppchen von einst wuchsen Nationen mit unterschiedlichen kulturellen Nennern heran: Franzosen, Holländer, Griechen, Deutsche. Bis die elende Globalisierung sich anschickte, die lieb gewonnenen nationalen Grenzen zugunsten des Wettbewerbs und der ökonomischen Machtspiele aufzuweichen. Nicht ohne Folgen für die nationale Identifikation des Bürgers mit seinem Land, seiner Herkunft, seiner Kultur. Heute erwartet man von Franzosen und Deutschen, sich bitte nicht mehr nur französisch“ oder deutsch“ zu fühlen, sondern europäisch“. Die teure und stolze Nationalidentität soll sozusagen von einer „Meta-Identität“ absorbiert werden. Das klingt für viele ziemlich schrecklich. Der Mensch ist schließlich ein Gewohnheitstier und das Konzept „europäisches Kollektiv“ ist noch nicht in allen Köpfen und Herzen angekommen. Was soll das überhaupt heißen, „europäisch“? Durch die Aufnahme sämtlicher Hinz-und-Kunz-Staaten in die Europäische Union ist doch dieses Europa kein geschützter Begriff! Wer gehört da dann alles dazu?“, fragt sich der verzagte Bürger. Womöglich bin ich dann zum Teil auch Türke?! Nein, danke!“

Nein, sich als rein Deutscher oder Franzose oder Spanier oder Grieche (dieser Tage vielleicht lieber gerade nicht) zu fühlen reicht den meisten völlig. In die Kerbe nationale Identität“ – vor allem die Bewahrung derselben – schlagen wahlkampftaktisch mit schöner Regelmäßigkeit die Le Pens, Wilders´ und dazuzurechnenden Konsorten. Sie alle suchen nach jenem Störfaktor, der verhindert, warum man nicht in Ruhe in seiner nationalen Suppe vor sich hin köcheln kann. Wer einem ständig die Identität klauen will. Zum einen sind da natürlich die ganzen Brüsselianer mit ihrem dirigistisch-kruden europäischen(!) Regelwerk, das den Mitgliedsländern die Souveränität Stück für Stück abgräbt. Aber, und das ist jedem BILD-Leser, jedem Mitte-Rechts-Wähler und jedem Möchtegern-Breivik dieser Tage klar, das eigentliche Übel, der Todesstoß für die nationale Identität ist die Unterwanderung, Vermischung, Infiltrierung der eigenen Kultur mit einer anderen. 

Altes Schlachtross aufs Feld geführt 
Was gehört denn zu einer typisch deutschen Identität“? Nun, sicherlich die Sprache, vielleicht auch bestimmte Gepflogenheiten und natürlich kulturelle Vermächtnisse. Aber sind diese Faktoren unübertragbar? Ist es so abwegig, dass auch ein Franzose preußische Tugenden an den Tag legen kann? Und kann der deutsche Otto-Normal-Verbraucher Schillers Glocke“ fehlerfrei rezitieren, eben nur weil`s schließlich ein Kulturgut ist?
Also bitte! Was die politisch enttäuschten Gemüter erhitzt, dreht sich doch nicht darum, dass der Franzose zum Frühstück Croissants verspeist und womöglich durch eine Mischehe die deutsche Marmeladenbrötchen-und-Ei-Bastion aufbricht! Nein, was die politisch Rechte mit den Anti
-Gruppierungen und der hetzenden Internet-Mischpoke auf der Suche nach kultureller Abgrenzung vereint, ist, ganz klassisch, die Frage: Wie hältst du´s mit der Religion?“
Der aufgeklärte Liberale mag nun den Kopf schütteln und sagen: Nun aber ehrlich! Säkularisierung, Luther, freie Religionswahl und wir kommen im 21. Jahrhundert immer noch auf die Gretchenfrage zurück?!“
Tja, es scheint so. Um die vermeintlichen Kulturbewahrer zu sammeln und zu mobilisieren, um den einen Nenner zu aktivieren, der sowohl Franzosen, Skandinavier, Engländer und Deutsche gemeinsam auf die Barrikaden treibt, muss das alte Schlachtross mit Namen „Untergang des Abendlandes“ aufs Feld geführt werden. Gerade der Islam – respektive die Ablehnung desselben – eint diese Menschen verschiedener Nationen zur kollektiven (europäischen!) Identität. Damit füttern zumindest jene Organisationen und Bewegungen ihre willige Zuhörerschaft, die wie anno dazumal nur mit den eigenen
Stammesgenossen auf dem eigenen Territorium jagen und sammeln wollen - zum Zwecke der Identitätswahrung versteht sich.  



Unsicherheit ist kein vorübergehender Zustand
Aber, kleiner Einwand, könnte es sein, dass sich die selbst ernannten Bewahrer als die wahren Kulturpessimisten erweisen? Dass sie etwas Entscheidendes übersehen? Sind „Kultur“ und „Identität“ Schneckenhäuser, in denen wir uns verkriechen und die Tür hinter uns zuwerfen können? Es mag ihnen nicht bewusst sein, aber die Rahmenbedingungen, um die eine Kultur von der anderen abzugrenzen, sind gar nicht so leicht zu stecken. Jahrhunderte Völkerwanderung, Kolonisation, Okkupation, Verschleppung, Kriege, Auslöschung: Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte gehen Völker in anderen auf. Könnte, oh Schreck, gerade diese Durchmischung Kulturen erst formen?


Hinter dem ganzen verschreckten Geschrei um die Aufweichung nationaler Grenzen und dem Verlust nationaler Identität steckt – was ganz menschlich ist – Unsicherheit. Die Welt steht einfach nicht still – und der Mensch, will er nicht unter die Räder kommen, muss mit. Das passt vielen verständlicherweise nicht. Unsicherheit ist kein vorübergehender Zustand, sondern schlicht Teil des Lebens. „Werdet erwachsen!“, möchte man da den Antis und Wilders zurufen. Wir werden wohl oder übel lernen müssen, dass das Kultur-Konstrukt der Zukunft immer weniger auf den Dreifaltigkeiten – Mono-Religion, Mono-Ethnie, Mono-Sprache – beruhen wird. Noch weniger als ohnehin schon. Dass muss aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass wir uns nicht anstrengen müssen, um zu vernünftigen Umgangsformen miteinander zu finden. Ein altes Problem, für das der Mensch schließlich jenes künstliche Konstrukt mit Namen Zivilisation“ erfand. Ein erzwungenes Konzept von (Verhaltens-) Regeln und Gesetzen, welche eben nicht gruppenspezifischen Religionen, Sitten und Befindlichkeiten Rechnung tragen.
Taugt zivilisiertes Verhalten als identifikationsstiftender Kitt? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber ohne würden wir unsere Zeit damit verbringen, uns im hobbes´schen Sinne die Köppe einzuschlagen. Wer braucht das schon?

Freitag, 18. Mai 2012

Glatzen-Per auf dem Dorfe...


Von Tanja A. Wilken




Rote oder weiße Schnürsenkel. Mehr brauchte es nicht. Zeig mir deine Doc Martens und ich weiß, ob ich einen Gleichgesinnten oder einen Feind vor mir habe. Mit vierzehn, fünfzehn konnte das Leben in mancherlei Hinsicht noch recht einfach sein. Politische Neigung, rechte oder linke Gesinnung, schlicht demonstriert werden.

Warum sich wer für welche Haltung entschied? Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Tatsächliche Vernunftgründe waren es wohl kaum. Für mich persönlich war es wohl eine Art „mentaler Querulanz“, die sich bei Hasstiraden gegen Andere automatisch einstellte. Warum sollte bei der Vielfalt an Kulturen und Religionen, bei der Vielzahl an Lebensentwürfen, Hautfarben und Ideen, ausgerechnet die eigene Art und Weise die allein Richtige sein? Wer, bitte schön, kann sich aussuchen, in welchem Land er geboren werden will? Wer kann seine Herkunft bestimmen? Klare Antwort: Niemand. Also, wie lässt sich aus dieser simplen und doch bestechenden Tatsache der Anspruch formulieren, etwas Besseres aufgrund seiner Wurzeln zu sein? Und wie leitet man im Umkehrschluss daraus ab, dass jeder, der nicht diesem, unserem Zugriff entzogenen Umstand entspricht, minderwertig ist? Die Logik, nach der der weiße, latent – aber nicht übermäßig nachdrücklich! – religiöse, heterosexuelle, Schnaps und Bier in Maßen – aber nicht andere Drogen! – konsumierende Deutsche das Maß der Menschheit sein sollte, wollte und konnte sich mir schlicht nicht erschließen.

Im Ostfriesland meiner Kindheit und Jugend gab es weder „Kinderfänger“, die auf dem Schulhof CDs mit rechtspopulistischer Rockmusik verteilten, noch Türkenbanden oder Zusammenrottungen anderer „fremder“ Gruppierungen, die einen mit dem Messer bedrohten. Die, die im Klassenraum die braven Kinder vom Lernen abhielten, entstammten überwiegend dem eigenen Kulturkreis. Angst, den gemeinsamen Bus für den morgendlichen Schulweg zu benutzen, hatte ich wegen dem bösen Migranten keine. Es gab aber genug Mitschüler, die das anders empfanden. Ob aus tatsächlichen Konfrontationen oder jenen Klischeebildern, die am heimatlichen Abendbrottisch gepflegt und kultiviert wurden – Ressentiments, Fremdenangst, der Hauch von Rassismus, geisterte in nicht wenigen heranwachsenden Köpfen.
Irgendwann in der Pubertät galt es schließlich für manche von uns Farbe zu bekennen. Siehe die Schnürsenkel. Dabei interessierte Politik tatsächlich wenig. Die etablierten Parteien schon einmal gar nicht. Eher führten Abenteuerlust und Auflehnung, gepaart mit jugendlicher Naivität, das Heft in der Hand.
Deutlich wurde dies im Hang zum Extremen – so muss ich gestehen, dass die Taten  der RAF eine gewisse Faszination auf uns ausübten. Mit dem Becks in der Hand wurden einige Abende mit lebhaften Diskussionen und einer kindischen Dummheit damit verbracht, Baader und Co. zu glorifizieren. Rückblickend betrachtet war es vor allem die Einstellung – das Hingeben an den Glauben an die eigene Sache, das Mobilmachen gegen den Staat der ehemaligen Täter, die Ignoranz aller Konsequenzen – was Eindruck auf uns machte. Es sei uns verziehen. Sofern wir den Worten nicht Taten folgen ließen und nachdem ein paar Jahre und Lebenserfahrungen unseren Horizont vergrößerten und wir uns unserer Stupidität entledigten. Man kann auch der Faszination entwachsen. Reifer werden. Weniger anfällig. Wehe denen, die nicht das Glück hatten.

Interessant ist in dieser Hinsicht, dass sich die Farben der Schnürsenkel zwar unterscheiden, die Wurzel, aus denen die Faszination für das Extreme gefüttert wird, aber weniger als uns womöglich lieb ist. Ob nun „links“ oder „rechts“, die Denkschablonen werden gespeist von derselben Zukunftsangst, vom selben mangelnden Selbstbewusstsein, vom selben Wunsch nach Schwarz-Weiß. Ja, obwohl wir rebellisch und anders sein wollten, im Grunde ging es doch nur um die Suche nach Gewissheit. Wissen wollen, wohin man gehört. Wer zu einem gehört. Plakativ gesagt, den Kampf zwischen Gut und Böse – nur eben, dass Helden und Bösewichter unterschiedlich definiert werden. Das Extreme bietet den Reiz, überzeugt sein zu können, wenn doch so wenig um einen herum sicher ist. Gewissheit ist Sicherheit, wenn Zukunft, Werte, Traditionen, Glaube auf tönernen Füßen stehen.

Und auch, was rechte Gesinnungen oder zumindest Sympathien betrifft, ist Friesland, jener Landstrich, der von Werbung und Tourismusindustrie als „kein schöner Land“ gepriesen wird, in dieser Hinsicht vergleichbar mit anderen „Problemgebieten“. Gerade im ländlichen Raum, also dort, wo es weniger multikulturelle Berührungspunkte gibt, wachsen Ressentiments besonders gut. Politisches Treibhausklima, sozusagen. Schon in meiner Jugend wurden einzelne Städte nach „rechts“ und „links“ eingeordnet und der einzige bekennende Skinhead meines Dorfes – gänzlich unbeeindruckt von unseren Einwänden, dass weder die Sony-Kopfhörer in seinen Ohren noch die Levisjeans um seine Hüften deutsche Markenprodukte seien – verkündete in überdeutlicher Lautstärke, dass er ein großdeutsches Reich wünsche. Und die Eingeborenen fanden mitunter auch wenig dabei, in feucht-fröhlichen Runden das Horst-Wessel-Lied anzustimmen – sofern man des Textes mächtig war.
Kriminalitätsstatistiken belegen Propagandadelikte, Volksverhetzung und Körperverletzungen, die rechtsextremistisch motiviert sind. Es gibt NPD-Ortsvereine und die in jüngster Zeit sich immer mehr Popularität erfreuenden Autonomen Nationalisten, eine „freie“ Nazi-Szene, die in ihrer auf Jugendkultur abzielenden Aufmachung besonders perfide ist. Verglichen mit Großstädten oder dichter besiedelten Orten sind die Zahlen sehr gering, oft im einstelligen Bereich (vorausgesetzt, die Statistiken geben tatsächlich jedes Vergehen wider). Reflexartig wird von den zuständigen Behörden die Situation beschwichtigend dargestellt. Immerhin tummelt sich kein brauner Mob, der Ausländer durch die Straßen jagt. Dennoch: Die Gefahr ist da, die Verführung präsent.

Es ist leicht, Opfer auszumachen, um sich selber größer zu fühlen. Und wo genügend Migranten fehlen, um seinen Frust abzulassen, findet man andere, die nicht ins selbst gewählte Schema passen. Behinderte, Obdachlose, Schwule: Für das dem persönlichen Geschmack genehmste Feindbild wird schon das Passende dabei sein. Die Farbe der Schnürsenkel ist da das geringste Problem.

Dienstag, 31. Januar 2012

Geschichte und Deutschland: Viel gelernt...?

von Tanja A. Wilken

Ich erinnere mich noch gut an lebhafte, politische Diskussionen im heimischen Familienverbund. Unweigerlich kam es auf Geburtstagsfeiern oder Weihnachtsfesten früher oder später auf „den Ausländer“ zu sprechen. Und damit zwangsläufig zum Krach. In meiner jugendlichen Naivität wehrte ich mich nämlich gegen Pauschalurteile und Aussagen, bei denen sich mir die Nackenhaare aufstellten. So war denn eine Meinung zum Thema Geschichte und Deutschland die, dass der österreichische Allmachtsfanatiker, obwohl er zwar mit dem ganzen Nationalsozialismus „übers Ziel hinausgeschossen war“, doch wenigstens so freundlich gewesen sei, dem deutschen Volk die Autobahn zu schenken. Und was „die Juden“ betrifft: Die wollte ja niemand nach dem Krieg bei sich haben. „Das hat man ja am Ende von Schindlers Liste gesehen!“ Meine emotionalen Ausbrüche wiederum ernteten kollektives Kopfschütteln: „Was regt sie sich denn so auf?“

Ja, was regte mich denn so auf? Die Geschichtsvergessenheit, die zuerst einmal keine Vergessenheit per se ist, weil man sich dazu überhaupt einmal hätte beschäftigen müssen? Die Tatsache, dass hier Menschen über andere urteilten, die sie kaum je aus nächster Nähe betrachtet hatten? Deren Kenntnisse über kulturelle wie religiöse Gepflogenheiten Anderer sich aus den handelsüblichen Vorurteilen und Klischeebildern zusammensetzten? Was mich nachhaltig beschäftigte, war, dass es bei den Gesprächen um alle Andersdenkende am Rande der kleinbürgerlichen Peripherie ging. Und das in diesen Gedanken vor allem eins nistete: latenter Rassismus und Antisemitismus. Diese Ressentiments schlummerten in einer Generation, die in den 70ern adoleszent geworden war, in einer Zeit, in der es schien, dass es nur zwei Möglichkeiten zur Verarbeitung mit den Verbrechen der Eltern- und Großelterngeneration gibt: konsequentes Verdrängen oder sich der Linksradikalen anschließen. Das ist natürlich sehr zugespitzt formuliert. Aber angesichts des Verdachts, den eine meiner Verwandten damals äußerte, nämlich, dass den Schülern heutzutage ja nur Schuldgefühle eingebläut werden, liegt es nahe, welcher Bewältigungsstrategie der Vorzug eingeräumt wurde.

Ist es so? Wurde mit moralischem Zeigefinger im Klassenraum gewedelt und der heranwachsenden Jugend die Verantwortung für Verbrechen eingetrichtert, für die sie laut Geburtsschein bestimmt nichts kann? Dazu folgendes: Ich (Jahrgang '79) war in diesem Klassenzimmer. Ich habe unzählige Stunden grobkörniges Archivmaterial aus den 70ern mit monoton-blechernen Stimmen im Hintergrund über mich ergehen lassen. Was daraus erwuchs, war weniger ein Schuld, als vielmehr ein Schamgefühl. Und ja, durchaus auch ein Gefühl für Verantwortung. Wir alle kennen den Allgemeinplatz, „wehret den Anfängen!“ Wenn auch in meiner Jugend durchaus plakativ und zum Teil inflationär gebraucht, spricht aus ihm doch Wahrheit. Um Geschichte aus dem Reich des zu Vernachlässigbarem, weil bald Vergessenen in das der Gegenwart zu überführen, ist das Erwecken eines diffusen Gefühls von Verpflichtung, Verantwortung und Verständnis nötig. Es geht nicht darum, auf die Großeltern einzureden und laut polternd Schuldeingeständnisse zu fordern. Sondern darum Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Toleranz in den Blickpunkt unseres Interesses zu stellen. Geschichte ist nicht nur die Lehre der Vergangenheit. Es ist der Pfeiler unserer Gegenwart und der Wegweiser in die Zukunft.

Und wie kann es mit dem Wahren der Vergangenheit und ihrem Wert dafür, uns eines Besseren zu belehren, bestellt sein – den Vorwurf des Eintrichterns von Schuldgefühlen in jungen Köpfen nicht zu vergessen – wenn laut einer aktuellen Forsa-Umfrage jeder fünfte Erwachsene Deutsche unter Dreißig mit dem Begriff „Ausschwitz“ nichts mehr anzufangen weiß? Wenn zwanzig Prozent der Deutschen latent antisemitisches Gedankengut pflegen? Und was heißt schon „latent“? Nicht stark genug zum Häuseranzünden und Grabsteine beschmieren, aber präsent genug für Misstrauen, Ablehnung, Ignoranz. Antisemitismus ist der Boden, auf der rechtsextreme Positionen ihre Saat streuen. Nicht jede Ernte mag aufgehen, aber wirft man noch Perspektivlosigkeit, staatliche Ignoranz und falsche bürgerliche Ignoranz hinzu, ist bei manchen der Schritt von „Jude raus!“ zur nackten Gewalt nicht weit. Ist das die Art, mit der eigenen Geschichte umzugehen?
Übertreibe ich nicht ein bisschen? Ach ja?

Der Verfassungsschutz brauchte Jahre, um die Morde an Mitbürgern mit Migrationshintergrund mit einem rechtsextremen Hintergrund zu verbinden. Das Wort „Döner-Morde“ wurde zum Unwort des Jahres erklärt – nachdem es wochen- und monatelang durch Boulevardblätter und „seriöse“ Medien gepeitscht wurde, ohne das sich groß Unmut über diese Art der Betitelung von Gewaltverbrechen regte. Die Erziehung und Beaufsichtigung unserer Jugend wird in manchen östlichen Landstrichen komplett den Rechten überlassen (was nicht einer gewissen bitteren Ironie entbehrt): ob Fußballvereine oder Krabbelgruppe, blonde arische Burschen und Mädels kümmern sich liebevoll um den Nachwuchs, während sich viele Bürger aufgrund ihrer Hautfarbe und Religionszugehörigkeit nicht vor die eigene Tür trauen. Polizei? Ein Staat, der seine Verantwortlichkeit demonstriert? Fehlanzeige!
Im Bundestag mag man sich schockiert zeigen über die Veröffentlichung des ersten Antisemitismusberichts. Verwundern dürften die Ergebnisse aber tatsächlich keinen. Von damals zu heute ist von der viel beschworenen Aufklärung und Gegenoffensive nicht viel zu sehen.
So schaffen die Ritualisierung von Gedenktagen oder feierliche Ansprachen keine Alternativen, keine Perspektiven, die helfen würden, stark genug gegen die Verführung zu sein. Lichterketten gegen Rechts mögen aufmerksam und gut gemeint sein – sie helfen nicht gegen das Gift in Köpfen und Herzen.

Wir sind weit davon entfernt es uns erlauben zu können, sich unserer Geschichte nicht zu erinnern.