von Tanja A. Wilken
Ich erinnere mich noch gut an lebhafte, politische Diskussionen im heimischen Familienverbund. Unweigerlich kam es auf Geburtstagsfeiern oder Weihnachtsfesten früher oder später auf „den Ausländer“ zu sprechen. Und damit zwangsläufig zum Krach. In meiner jugendlichen Naivität wehrte ich mich nämlich gegen Pauschalurteile und Aussagen, bei denen sich mir die Nackenhaare aufstellten. So war denn eine Meinung zum Thema Geschichte und Deutschland die, dass der österreichische Allmachtsfanatiker, obwohl er zwar mit dem ganzen Nationalsozialismus „übers Ziel hinausgeschossen war“, doch wenigstens so freundlich gewesen sei, dem deutschen Volk die Autobahn zu schenken. Und was „die Juden“ betrifft: Die wollte ja niemand nach dem Krieg bei sich haben. „Das hat man ja am Ende von Schindlers Liste gesehen!“ Meine emotionalen Ausbrüche wiederum ernteten kollektives Kopfschütteln: „Was regt sie sich denn so auf?“
Ja, was regte mich denn so auf? Die Geschichtsvergessenheit, die zuerst einmal keine Vergessenheit per se ist, weil man sich dazu überhaupt einmal hätte beschäftigen müssen? Die Tatsache, dass hier Menschen über andere urteilten, die sie kaum je aus nächster Nähe betrachtet hatten? Deren Kenntnisse über kulturelle wie religiöse Gepflogenheiten Anderer sich aus den handelsüblichen Vorurteilen und Klischeebildern zusammensetzten? Was mich nachhaltig beschäftigte, war, dass es bei den Gesprächen um alle Andersdenkende am Rande der kleinbürgerlichen Peripherie ging. Und das in diesen Gedanken vor allem eins nistete: latenter Rassismus und Antisemitismus. Diese Ressentiments schlummerten in einer Generation, die in den 70ern adoleszent geworden war, in einer Zeit, in der es schien, dass es nur zwei Möglichkeiten zur Verarbeitung mit den Verbrechen der Eltern- und Großelterngeneration gibt: konsequentes Verdrängen oder sich der Linksradikalen anschließen. Das ist natürlich sehr zugespitzt formuliert. Aber angesichts des Verdachts, den eine meiner Verwandten damals äußerte, nämlich, dass den Schülern heutzutage ja nur Schuldgefühle eingebläut werden, liegt es nahe, welcher Bewältigungsstrategie der Vorzug eingeräumt wurde.
Ist es so? Wurde mit moralischem Zeigefinger im Klassenraum gewedelt und der heranwachsenden Jugend die Verantwortung für Verbrechen eingetrichtert, für die sie laut Geburtsschein bestimmt nichts kann? Dazu folgendes: Ich (Jahrgang '79) war in diesem Klassenzimmer. Ich habe unzählige Stunden grobkörniges Archivmaterial aus den 70ern mit monoton-blechernen Stimmen im Hintergrund über mich ergehen lassen. Was daraus erwuchs, war weniger ein Schuld, als vielmehr ein Schamgefühl. Und ja, durchaus auch ein Gefühl für Verantwortung. Wir alle kennen den Allgemeinplatz, „wehret den Anfängen!“ Wenn auch in meiner Jugend durchaus plakativ und zum Teil inflationär gebraucht, spricht aus ihm doch Wahrheit. Um Geschichte aus dem Reich des zu Vernachlässigbarem, weil bald Vergessenen in das der Gegenwart zu überführen, ist das Erwecken eines diffusen Gefühls von Verpflichtung, Verantwortung und Verständnis nötig. Es geht nicht darum, auf die Großeltern einzureden und laut polternd Schuldeingeständnisse zu fordern. Sondern darum Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Toleranz in den Blickpunkt unseres Interesses zu stellen. Geschichte ist nicht nur die Lehre der Vergangenheit. Es ist der Pfeiler unserer Gegenwart und der Wegweiser in die Zukunft.
Und wie kann es mit dem Wahren der Vergangenheit und ihrem Wert dafür, uns eines Besseren zu belehren, bestellt sein – den Vorwurf des Eintrichterns von Schuldgefühlen in jungen Köpfen nicht zu vergessen – wenn laut einer aktuellen Forsa-Umfrage jeder fünfte Erwachsene Deutsche unter Dreißig mit dem Begriff „Ausschwitz“ nichts mehr anzufangen weiß? Wenn zwanzig Prozent der Deutschen latent antisemitisches Gedankengut pflegen? Und was heißt schon „latent“? Nicht stark genug zum Häuseranzünden und Grabsteine beschmieren, aber präsent genug für Misstrauen, Ablehnung, Ignoranz. Antisemitismus ist der Boden, auf der rechtsextreme Positionen ihre Saat streuen. Nicht jede Ernte mag aufgehen, aber wirft man noch Perspektivlosigkeit, staatliche Ignoranz und falsche bürgerliche Ignoranz hinzu, ist bei manchen der Schritt von „Jude raus!“ zur nackten Gewalt nicht weit. Ist das die Art, mit der eigenen Geschichte umzugehen?
Übertreibe ich nicht ein bisschen? Ach ja?
Der Verfassungsschutz brauchte Jahre, um die Morde an Mitbürgern mit Migrationshintergrund mit einem rechtsextremen Hintergrund zu verbinden. Das Wort „Döner-Morde“ wurde zum Unwort des Jahres erklärt – nachdem es wochen- und monatelang durch Boulevardblätter und „seriöse“ Medien gepeitscht wurde, ohne das sich groß Unmut über diese Art der Betitelung von Gewaltverbrechen regte. Die Erziehung und Beaufsichtigung unserer Jugend wird in manchen östlichen Landstrichen komplett den Rechten überlassen (was nicht einer gewissen bitteren Ironie entbehrt): ob Fußballvereine oder Krabbelgruppe, blonde arische Burschen und Mädels kümmern sich liebevoll um den Nachwuchs, während sich viele Bürger aufgrund ihrer Hautfarbe und Religionszugehörigkeit nicht vor die eigene Tür trauen. Polizei? Ein Staat, der seine Verantwortlichkeit demonstriert? Fehlanzeige!
Im Bundestag mag man sich schockiert zeigen über die Veröffentlichung des ersten Antisemitismusberichts. Verwundern dürften die Ergebnisse aber tatsächlich keinen. Von damals zu heute ist von der viel beschworenen Aufklärung und Gegenoffensive nicht viel zu sehen.
So schaffen die Ritualisierung von Gedenktagen oder feierliche Ansprachen keine Alternativen, keine Perspektiven, die helfen würden, stark genug gegen die Verführung zu sein. Lichterketten gegen Rechts mögen aufmerksam und gut gemeint sein – sie helfen nicht gegen das Gift in Köpfen und Herzen.
Wir sind weit davon entfernt es uns erlauben zu können, sich unserer Geschichte nicht zu erinnern.
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