von Tanja A. Wilken
Vor 50 Jahren hatte ein guter Mensch eine gute Idee: 1960 erregte die Verhaftung zweier portugiesischer Studenten die Aufmerksamkeit des britischen Anwalts Peter Benenson. Spontan hatten sie sich mit dem Trinkspruch, „Auf die Freiheit!“ zugeprostet. Dummerweise wurde dies unter der damaligen Salazar-Diktatur nicht gern gehört und die beiden wurden kurzerhand eingesperrt. Die Empörung über diese Willkür veranlasste Benenson zu handeln: Er und einige Gleichgesinnte schrieben Briefe an die portugiesische Regierung mit der Bitte um Freilassung der Studenten. Man könnte das für ziemlich naiv, vielleicht sogar lächerlich, halten: Briefe schreiben gegen die Freiheitsberaubung in einer Diktatur! Tatsächlich verbuchten Benenson und seine Mitstreiter aber einen Erfolg – die Gefangenen wurden freigelassen. Kurze Zeit später veröffentlichte Benenson in der britischen Tageszeitung The Observer den Artikel “The Forgotten Prisoner“, in dem er die Idee einer Organisation darlegte, die sich dem Kampf für die Menschenrechte politisch Gefangener verschreibt. Die Ziele fasste er am Ende zusammen: unparteiisches Eintreten für die Freilassung von Menschen, die aufgrund ihrer Meinungsäußerung eingesperrt wurden oder zumindest das Erreichen eines fairen, öffentlichen Verfahrens; die Ausdehnung des Asylrechts und die Unterstützung politischer Flüchtlinge bei der Arbeitsaufnahme und schließlich, den großen internationalen Staats- und Verwaltungsapparaten bei der Wahrung des Rechts auf freie Meinungsäußerung auf die Finger schauen. Allen Unkenrufen zum Trotz, die die idealistischen Aktionen Einzelner belächeln und meinen, man könne die Welt so nicht ändern und seine Zeit besser nutzen, blieb Benenson kein Träumer, der allein im stillen Kämmerlein über den Zeitungen brütet: aus der urgent action, dem Schreiben von Protestbriefen, entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit die international agierende Organisation Amnesty International, die mittlerweile an die drei Millionen Mitglieder umfasst.
An dieser Entstehungsgeschichte zeigt sich, dass Empörung ein wichtiger Schlüssel, ein Katalysator für etwas Großes sein kann.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ So steht es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, zu denen sich die Mitglieder der Vereinten Nationen bekannten. Aber noch im 21.Jahrhundert sind viele Menschen durch ihren Geburtsort, durch ihren religiösen und kulturellen Hintergrund, aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechts – kurzum: durch puren Zufall – gleicher als andere. Es ist wichtig, dass sich unter uns Querulanten und Optimisten finden, die sich daran stören, dass in dieser großen weiten Welt verdammt viel Mist passiert und viele Menschen oft Schicksale erleiden müssen, für die nicht sie selbst, sondern die Mächtigen um sie herum die Verantwortung tragen.
Es gibt mittlerweile immer mehr Menschenrechts- und Hilfsorganisationen – wenn man so will, „Berufs-Empörer“, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diesen Missständen offen entgegenzutreten. Sie kämpfen, mit teils unterschiedlichen Schwerpunkten, um das gleiche Ziel. Und in einer Zeit medialer Reizüberflutung, in der eine Katastrophe nach der anderen verhandelt wird und somit die „Katastrophe“ als solche beinahe inflationären Charakter hat, müssen die verschiedenen Organisationen auch um Aufmerksamkeit für die eigene Arbeit buhlen, und um Mitglieder, ehrenamtliche Helfer und Spendengelder. Es scheint, dass auch die zahlreichen Weltverbesserungs-AGs in einen Wettstreit miteinander geraten sind. Da ist die Außenwirkung wichtig, das Marketing und das Profil. Auch Amnesty International machte mit und begann ab 2001 sein Grundsatzprogramm zu ändern. Jahrzehntelang waren es vornehmlich die anonymen politischen Gefangenen, denen man eine Stimme geben wollte. Die Organisation betonte von Anfang an, sich von Ideologien und von politischer Einflussnahme fernhalten zu wollen. Vor zehn Jahren aber beschloss man, sich auch wirtschaftlichen und sozialen Rechten und ihrer Durchsetzung zu widmen. Wirtschaft und Politik sind aber per se miteinander verwobene Minenfelder, auf denen hehre Ansprüche und der Wunsch nach Unabhängigkeit einem leicht um die Ohren fliegen können. Ohne Zugeständnisse keine Weltrettung.
Es mag sein, dass man Rechte nicht hierarchisieren kann, wie Irene Khan (bis 2009 die Frau an der Spitze von Amnesty International) einmal sagte, um die Programmänderung zu erklären. Gehört nicht auch das Recht auf sauberes Wasser, Bildung und Wohnung zum Menschsein? Das Problem ist nur, wann wird es zu viel? Wann torpediert man eine gute Idee mit zu vielen Erwartungen? Wann verliert man durch Dauerpräsenz auf allen Gebieten sein Gehör bei denen, mit denen man verhandeln will? Und bei denen, die einen unterstützen sollen, sich aber bei dem Übereifer verwundert nach den Grundsätzen umschauen? Wann bewirkt man vor lauter gutem Willen letztlich gar nichts mehr?
Wer zu viel will, verheddert sich auf den vielen Baustellen dieser Welt. Niemand kann an allen Fronten kämpfen, sämtliche Waisenkinder aus Kambodscha adoptieren, Trinkwasserbrunnen betreiben, die wirtschaftliche Ausbeutung ärmerer Länder stoppen und zugleich den heimischen Wohlstand fördern, damit allen Flüchtlingen Nordafrikas ein lauschiges Plätzchen im hauseigenen Garten zum campieren geboten werden kann.
Unser Blick ist begrenzt, die Möglichkeiten auch. Ein guter Mensch ist auch schon der, der seinen Blick und seinen Verstand offen hält und der spontan in einer bestimmten Situation das Notwendige tut. Dafür reicht schon Empathie mit einem guten Schuss Empörung.
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