Mittwoch, 24. August 2011

Feind im Innern...

von Tanja A. Wilken

Seit dem 22. Juli heißt es Umdenken. An diesem Tag erreichte der Terror Norwegen: zuerst detonierte im Osloer Regierungsviertel eine Bombe. Während verletzte Menschen noch durch die vom Trümmerstaub vernebelten Straßen liefen und Polizei und Feuerwehr mit Hundertschaften vor Ort – und abgelenkt – waren, begann auf der Insel Utøya ein Blutbad. Anders Behring Breivik, 32 Jahre jung, bewaffnet mit einem Halbautomatikgewehr, welches er mit Teilmantelgeschossen geladen hatte, machte Jagd auf die jugendlichen Teilnehmer eines sozialdemokratischen Zeltlagers.

Während die ersten Schlagzeilen über den Bildschirm liefen und bevor der Täter identifiziert war, hatten sowohl die ersten Terrorismusexperten wie auch die ersten Blogger und selbsternannten Verteidiger Europas auf den einschlägigen Sites die Quelle des Angriffs ausgemacht. Und auch viele von uns Toleranzbefürwortern dachten, dass der Terror von radikalislamischer Seite auf die Norweger einschlug. Beschämend? Nachvollziehbar? Durch die Terrorakte in Norwegen wurde einmal mehr unser Reflex deutlich, die Feinde unserer Gesellschaft zuerst im muslimischen Lager zu suchen. Wir alle waren wohl überrascht und zugegeben, vielleicht sogar ein wenig erleichtert, als klar wurde, dass der Täter Norweger ist. Ein Mann aus dem Westen. Und dennoch keiner „von uns“. Breivik, das zeigte er eindeutig durch seine Tat, sieht sich nicht als Europäer, nicht als Freund einer offenen Gesellschaft, vermutlich nicht einmal als Demokrat.

Ist Breivik die Personifikation des „neuen Feindes“ im Innern? Ist er die logische Konsequenz, die Weiterführung der Hasstiraden und der Aufwiegelung von rechtspopulistischen Parteien wie auch den anonymen Internetforen, die sich über die „Unterwanderung Europas durch den Muselmann“ auslassen und sich zusammen in ihrem ideologischen Sumpf suhlen? Ist er der, der nur den nächsten Schritt wagte, vom Wort zur Tat?
Breivik war ein Einzelgänger. Er hatte keine Familie, zu der er großen Kontakt pflegte. Zuletzt lebte er allein auf einem Bauernhof. Einige Jahre war er Mitglied der norwegischen Freiheitspartei, die Partei, die mit Stimmungsmache auf ansehnliche 23 Prozent kommt und ein großer Konkurrent der herrschenden Sozialdemokraten ist. Mit Breiviks kurzer Mitgliedschaft macht man derzeit natürlich keine Werbung, mit seinem Wahn will man sich nicht identifizieren lassen. „Von uns hat er das nicht!“ Tatsächlich schien Breivik die Politik nicht radikal genug zu sein.

Im worldwideweb inszenierte er sich als passionierter Jäger und als Kreuz- und Tempelritter. Er gab an, Mitglied einer skandinavischen Freimaurer-Loge zu sein. Breivik war allem Anschein nach ein junger Mensch auf der Suche nach Zugehörigkeit. Einer von vielen, die ihren Platz nicht finden können. Das ist nichts Ungewöhnliches. Vielen von uns geht es nicht anders. Aber Breivik war kein Fünfzehnjähriger in den Wirren der Pubertät. Seine Identitätssuche führte ihn zuerst zu Gruppierungen mit Weltverschwörungstheorien als Grundlage und weiter, als dies nicht mehr reichte, zur verstärkten Radikalisierung durch rechte Internetforen, in denen er sich mit amerikanischen und europäischen Bloggern austauschte. Er orientierte sich an jener namens- und gesichtslosen Internetgemeinde, die vorgeben, die „Stimme der Mehrheit“ zu sein, und sich gegen die islamische Invasion und gegen die weichen, liberalen Mainstreammedien zur Wehr zu setzen. Diese „Mehrheit“ sucht nicht die öffentliche Diskussion, sie pflegt keine Konfrontation in offenen Debatten. Auch Breivik blieb, bis zum großen Auftritt, anonym.

Wer ist nun schuld? Das Internet und seine Hassprediger, der pöbelnde Mob, der sich seine Fakten zurechtbiegt, bis sie zur hauseigenen, islamophoben Idee passen? Oder womöglich die Religion? Die norwegische Polizei bezeichnet Breivik als „christlichen Fundamentalisten“. Manche werden sich verwundert die Augen reiben: „Gibt es so was denn?“ Ist auf beiden Seiten der Glaube die Wurzel allen Übels? Auch hier haben wir Parallelen, wenn man sie denn suchen möchte, zum Radikalislamismus: Inquisition auf der einen, Dschihad auf der anderen Seite. Hier Hexenverbrennungen, dort Selbstmordattentäter. Hier Oslo, dort der 11. September 2001. Hier wie dort ist Religion ein Spalter und wird als letzter verbliebener Schutzwall einer gemeinschaftlichen, kulturellen Identität benutzt (oder missbraucht). Der Mensch ist nur ein kleines Wesen in einer ungeheuren Welt, deren Zusammenhänge er nie ganz verstehen wird. Die Folge ist Angst. Und Religion, Glaube, ist ein Anker. Er vereint. Und separiert. Aber bevor man von der christlichen Gemeinde in Oslo eine öffentliche Stellungnahme und Distanzierung vom „Fundamentalisten“ Breivik verlangt, sollte man sich vor Augen halten, dass es Menschen sind, die Glauben interpretieren und praktizieren. So wie nicht jeder Moslem radikal ist, so ist auch nicht jeder Katholik automatisch der Meinung, die heilige römische Inquisition wieder ins Leben rufen zu müssen, um Ordnung zu schaffen.
Das Böse, es ist der Mensch. Das Individuum.

Als weiterer Faktor kommen noch die politischen Parteien in Frage. Die Aufwiegler ebenso wie die Beschwichter, die offensichtliche Probleme nicht beim Namen nennen, keine konstruktiven Debatten einleiten können, ohne sich gegenseitig mit den Prädikaten „Nazi“ und „Islamhasser“ zu belegen. Was im politischen Umgangston Gang und Gäbe ist, ist auch in unserer Gesellschaft unübersehbar. Beschimpfungen statt Argumentation. Über den Kamm scheren, statt Differenzierung. Den populistischen Parteien geht es weniger um den proklamierten „Schutz“ Europas oder des Heimatlandes als darum, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Es geht nicht um Zukunft und Gestaltung, sondern um die Wählerstimmen des kleinen, verängstigten Mannes.

Derzeit geht die Suche nach den oder dem Schuldigen noch weiter. Wie lange wird es dauern, bis der Reflex wieder einsetzt? Bis ein paradoxer Umkehrschluss nahelegt, dass es im Grunde doch die Muslime sind, die schuld sind? Nicht, weil sie geschossen haben. Nicht, weil der Mörder aus ihrer Mitte kommt. Sondern, weil sie da sind. Weil es sie gibt. Weil ihre Anwesenheit Menschen wie Breivik stört. Weil sie, als Sündenböcke und Minderheit, von anderen Menschen verteidigt werden. Weil sie immer im Fokus stehen. Sei es bei Integrationsdebatten, Sozialleistungsschwindel, Kriminalität oder sonst wo. Wird Norwegen den Weg der Niederlande gehen, welches sich nach dem Mord am Regisseur Theo van Gogh im Jahre 2004 vom Vorzeigeland der kulturellen Vielfalt und Toleranz zu einer Gesellschaft der Angst und des Misstrauens wandelte? Anders Behring Breivik würde das gefallen. Es wäre ein wichtiger Sieg in Richtung der schrittweisen Auflösung der offenen Gesellschaft, die Menschen wie ihm ein Dorn im Auge sind.

Es ist bezeichnend, dass er sich als Opfer keine muslimische Gemeinde versammelt zum Freitagsgebet aussuchte. Er attackierte den „Mainstream“. Die verweichlichten Demokraten, die, anstatt ihr Land vor „denen“ zu schützen, „diese“ auch noch ungeniert auffordern, zu kommen. So wie wir Breivik als unseren Feind im Innern identifizieren, so sah er auch uns. Für ihn sind die Liberalen, die Toleranten, die Kritiker, die Offenen die Feinde im Innern. Unverständlich? Nicht doch! Auch al-Qaida tötete bisher weit mehr eigene Glaubensbrüder als ungläubige Westler. Es ist eine logische Konsequenz: die Andersdenkenden, die Fremden kann man vertreiben. Die „eigenen“ Leute, die sich im Innern gegen die Ideologie stellen – und womöglich weiter mit dem „Feind“ paktieren – gilt es zu identifizieren. Und ruhig zu stellen. Breivik folgt der Tradition historisch bekannter Diffamierungs- und Denunzierungsmaschinerien (Jakobinerdiktatur in Frankreich des 18. Jahrhunderts, Deutschland in den 1930ern und 40ern, Lenins und Stalins Sowjetunion und noch einige mehr). Sein Hass richtet sich gegen die eigenen Leute, die in seiner Vorstellung Verräter am eigenen Land sind.

Wer ist schuld? Die „Nationalen“? Die „Sozialdemokraten“? Der lasche oder der harsche Umgangston? Die Muslime? Die Religion?
Die Verantwortung am Tod der Menschen vom 22. Juli 2011 trägt der Attentäter. Es ist seine verblendete Weltsicht, die das eigene Erleben und Denken absolut setzt und keine andere als die eigene zu dulden bereit ist. Anders Behring Breivik wählte die Abschottung. Er blieb in der Welt, die er kannte und in der er sich verstanden fühlte, allen Gegenargumenten zum Trotz. „Europa wird nicht nur vom Islam, sondern auch vom Gutmenschentum unterwandert“, das ist seine Überzeugung. Dass es in Norwegen gerade einmal einen muslimischen Bevölkerungsanteil von drei Prozent gibt, dass z.B. auch die Geburtenzahlen von Türken seit Jahren rückläufig sind und es insgesamt eine höhere Ab- denn Zuwanderung gibt, so dass eine geplante „Invasion Europas“ unwahrscheinlich ist, dass von einem linken Mainstream angesichts des gesamteuropäischen Aufstiegs von populistischen Parteien und auflagenstarken „konservativen“ Medien kaum die Rede sein kann, dass sich die europäischen Regierungen mehr Gedanken um Währung und Rüstung, denn um Bildung und Hilfsmaßnahmen für die Flüchtenden und Hungernden machen, stört die Argumentationslinie der Breiviks unsrer Tage nicht.

Aber uns sollte es stören! Nicht nur weil wir jetzt ganz offiziell ins Fadenkreuz gerückt und zu Feinden erklärt wurden. Wollen wir den Populisten und Radaubrüdern das Feld überlassen? Uns von Menschen, die ihren Platz nicht gefunden haben und sich an den (selbst gewählten) Rand gedrängt fühlen, diktieren lassen, wie wir leben wollen und wem unser Mitgefühl gilt? Sollen jene uns unsere Fragen nach Zugehörigkeit beantworten, die glauben, in Pamphleten, Internetforen und Medien den Stein der Weisen gefunden zu haben? Soll Stereotypie über offene Augen und Ohren siegen? Sollen wir den Feinden der Demokratie und der offenen Gesellschaft – die nicht nur eine Gesellschaft „der offenen Arme“ ist, sondern eine Gesellschaft der Kritik und Gegenkritik, der unterschiedlichsten Lebens- und Glaubensauffassungen unter dem Dach gleichermaßen anerkannter Rechten und Pflichten – das Feld überlassen? 

Wie viel „Erfolg“ Breivik mit diesem brutalen Übergriff auf unsere Gesellschaft haben wird – die Beantwortung dieser Frage liegt allein bei uns.

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