Freitag, 8. Juni 2012

Identitätsfragen ...


von Tanja A. Wilken

Der Mensch ist des Menschen Wolf
konstatierte Thomas Hobbes 1642. Wir rotten uns zusammen, um zu jagen, Territorien zu besetzen, zu stehlen und zu betrügen. Alles für die Arterhaltung. Sprache, Ethnie, Religion bilden die Grundlage für Gemeinsamkeiten, die vor allem zur Unterscheidung dienen: Kultur als identitätsstiftender Kitt, der in der Gruppe dafür Sorge trägt, dass die Feinde und Futterneider da draußen“ gesucht werden: Kulturelle Identität gleich kollektive Identität.

Aus den Grüppchen von einst wuchsen Nationen mit unterschiedlichen kulturellen Nennern heran: Franzosen, Holländer, Griechen, Deutsche. Bis die elende Globalisierung sich anschickte, die lieb gewonnenen nationalen Grenzen zugunsten des Wettbewerbs und der ökonomischen Machtspiele aufzuweichen. Nicht ohne Folgen für die nationale Identifikation des Bürgers mit seinem Land, seiner Herkunft, seiner Kultur. Heute erwartet man von Franzosen und Deutschen, sich bitte nicht mehr nur französisch“ oder deutsch“ zu fühlen, sondern europäisch“. Die teure und stolze Nationalidentität soll sozusagen von einer „Meta-Identität“ absorbiert werden. Das klingt für viele ziemlich schrecklich. Der Mensch ist schließlich ein Gewohnheitstier und das Konzept „europäisches Kollektiv“ ist noch nicht in allen Köpfen und Herzen angekommen. Was soll das überhaupt heißen, „europäisch“? Durch die Aufnahme sämtlicher Hinz-und-Kunz-Staaten in die Europäische Union ist doch dieses Europa kein geschützter Begriff! Wer gehört da dann alles dazu?“, fragt sich der verzagte Bürger. Womöglich bin ich dann zum Teil auch Türke?! Nein, danke!“

Nein, sich als rein Deutscher oder Franzose oder Spanier oder Grieche (dieser Tage vielleicht lieber gerade nicht) zu fühlen reicht den meisten völlig. In die Kerbe nationale Identität“ – vor allem die Bewahrung derselben – schlagen wahlkampftaktisch mit schöner Regelmäßigkeit die Le Pens, Wilders´ und dazuzurechnenden Konsorten. Sie alle suchen nach jenem Störfaktor, der verhindert, warum man nicht in Ruhe in seiner nationalen Suppe vor sich hin köcheln kann. Wer einem ständig die Identität klauen will. Zum einen sind da natürlich die ganzen Brüsselianer mit ihrem dirigistisch-kruden europäischen(!) Regelwerk, das den Mitgliedsländern die Souveränität Stück für Stück abgräbt. Aber, und das ist jedem BILD-Leser, jedem Mitte-Rechts-Wähler und jedem Möchtegern-Breivik dieser Tage klar, das eigentliche Übel, der Todesstoß für die nationale Identität ist die Unterwanderung, Vermischung, Infiltrierung der eigenen Kultur mit einer anderen. 

Altes Schlachtross aufs Feld geführt 
Was gehört denn zu einer typisch deutschen Identität“? Nun, sicherlich die Sprache, vielleicht auch bestimmte Gepflogenheiten und natürlich kulturelle Vermächtnisse. Aber sind diese Faktoren unübertragbar? Ist es so abwegig, dass auch ein Franzose preußische Tugenden an den Tag legen kann? Und kann der deutsche Otto-Normal-Verbraucher Schillers Glocke“ fehlerfrei rezitieren, eben nur weil`s schließlich ein Kulturgut ist?
Also bitte! Was die politisch enttäuschten Gemüter erhitzt, dreht sich doch nicht darum, dass der Franzose zum Frühstück Croissants verspeist und womöglich durch eine Mischehe die deutsche Marmeladenbrötchen-und-Ei-Bastion aufbricht! Nein, was die politisch Rechte mit den Anti
-Gruppierungen und der hetzenden Internet-Mischpoke auf der Suche nach kultureller Abgrenzung vereint, ist, ganz klassisch, die Frage: Wie hältst du´s mit der Religion?“
Der aufgeklärte Liberale mag nun den Kopf schütteln und sagen: Nun aber ehrlich! Säkularisierung, Luther, freie Religionswahl und wir kommen im 21. Jahrhundert immer noch auf die Gretchenfrage zurück?!“
Tja, es scheint so. Um die vermeintlichen Kulturbewahrer zu sammeln und zu mobilisieren, um den einen Nenner zu aktivieren, der sowohl Franzosen, Skandinavier, Engländer und Deutsche gemeinsam auf die Barrikaden treibt, muss das alte Schlachtross mit Namen „Untergang des Abendlandes“ aufs Feld geführt werden. Gerade der Islam – respektive die Ablehnung desselben – eint diese Menschen verschiedener Nationen zur kollektiven (europäischen!) Identität. Damit füttern zumindest jene Organisationen und Bewegungen ihre willige Zuhörerschaft, die wie anno dazumal nur mit den eigenen
Stammesgenossen auf dem eigenen Territorium jagen und sammeln wollen - zum Zwecke der Identitätswahrung versteht sich.  



Unsicherheit ist kein vorübergehender Zustand
Aber, kleiner Einwand, könnte es sein, dass sich die selbst ernannten Bewahrer als die wahren Kulturpessimisten erweisen? Dass sie etwas Entscheidendes übersehen? Sind „Kultur“ und „Identität“ Schneckenhäuser, in denen wir uns verkriechen und die Tür hinter uns zuwerfen können? Es mag ihnen nicht bewusst sein, aber die Rahmenbedingungen, um die eine Kultur von der anderen abzugrenzen, sind gar nicht so leicht zu stecken. Jahrhunderte Völkerwanderung, Kolonisation, Okkupation, Verschleppung, Kriege, Auslöschung: Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte gehen Völker in anderen auf. Könnte, oh Schreck, gerade diese Durchmischung Kulturen erst formen?


Hinter dem ganzen verschreckten Geschrei um die Aufweichung nationaler Grenzen und dem Verlust nationaler Identität steckt – was ganz menschlich ist – Unsicherheit. Die Welt steht einfach nicht still – und der Mensch, will er nicht unter die Räder kommen, muss mit. Das passt vielen verständlicherweise nicht. Unsicherheit ist kein vorübergehender Zustand, sondern schlicht Teil des Lebens. „Werdet erwachsen!“, möchte man da den Antis und Wilders zurufen. Wir werden wohl oder übel lernen müssen, dass das Kultur-Konstrukt der Zukunft immer weniger auf den Dreifaltigkeiten – Mono-Religion, Mono-Ethnie, Mono-Sprache – beruhen wird. Noch weniger als ohnehin schon. Dass muss aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass wir uns nicht anstrengen müssen, um zu vernünftigen Umgangsformen miteinander zu finden. Ein altes Problem, für das der Mensch schließlich jenes künstliche Konstrukt mit Namen Zivilisation“ erfand. Ein erzwungenes Konzept von (Verhaltens-) Regeln und Gesetzen, welche eben nicht gruppenspezifischen Religionen, Sitten und Befindlichkeiten Rechnung tragen.
Taugt zivilisiertes Verhalten als identifikationsstiftender Kitt? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber ohne würden wir unsere Zeit damit verbringen, uns im hobbes´schen Sinne die Köppe einzuschlagen. Wer braucht das schon?

Freitag, 18. Mai 2012

Glatzen-Per auf dem Dorfe...


Von Tanja A. Wilken




Rote oder weiße Schnürsenkel. Mehr brauchte es nicht. Zeig mir deine Doc Martens und ich weiß, ob ich einen Gleichgesinnten oder einen Feind vor mir habe. Mit vierzehn, fünfzehn konnte das Leben in mancherlei Hinsicht noch recht einfach sein. Politische Neigung, rechte oder linke Gesinnung, schlicht demonstriert werden.

Warum sich wer für welche Haltung entschied? Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Tatsächliche Vernunftgründe waren es wohl kaum. Für mich persönlich war es wohl eine Art „mentaler Querulanz“, die sich bei Hasstiraden gegen Andere automatisch einstellte. Warum sollte bei der Vielfalt an Kulturen und Religionen, bei der Vielzahl an Lebensentwürfen, Hautfarben und Ideen, ausgerechnet die eigene Art und Weise die allein Richtige sein? Wer, bitte schön, kann sich aussuchen, in welchem Land er geboren werden will? Wer kann seine Herkunft bestimmen? Klare Antwort: Niemand. Also, wie lässt sich aus dieser simplen und doch bestechenden Tatsache der Anspruch formulieren, etwas Besseres aufgrund seiner Wurzeln zu sein? Und wie leitet man im Umkehrschluss daraus ab, dass jeder, der nicht diesem, unserem Zugriff entzogenen Umstand entspricht, minderwertig ist? Die Logik, nach der der weiße, latent – aber nicht übermäßig nachdrücklich! – religiöse, heterosexuelle, Schnaps und Bier in Maßen – aber nicht andere Drogen! – konsumierende Deutsche das Maß der Menschheit sein sollte, wollte und konnte sich mir schlicht nicht erschließen.

Im Ostfriesland meiner Kindheit und Jugend gab es weder „Kinderfänger“, die auf dem Schulhof CDs mit rechtspopulistischer Rockmusik verteilten, noch Türkenbanden oder Zusammenrottungen anderer „fremder“ Gruppierungen, die einen mit dem Messer bedrohten. Die, die im Klassenraum die braven Kinder vom Lernen abhielten, entstammten überwiegend dem eigenen Kulturkreis. Angst, den gemeinsamen Bus für den morgendlichen Schulweg zu benutzen, hatte ich wegen dem bösen Migranten keine. Es gab aber genug Mitschüler, die das anders empfanden. Ob aus tatsächlichen Konfrontationen oder jenen Klischeebildern, die am heimatlichen Abendbrottisch gepflegt und kultiviert wurden – Ressentiments, Fremdenangst, der Hauch von Rassismus, geisterte in nicht wenigen heranwachsenden Köpfen.
Irgendwann in der Pubertät galt es schließlich für manche von uns Farbe zu bekennen. Siehe die Schnürsenkel. Dabei interessierte Politik tatsächlich wenig. Die etablierten Parteien schon einmal gar nicht. Eher führten Abenteuerlust und Auflehnung, gepaart mit jugendlicher Naivität, das Heft in der Hand.
Deutlich wurde dies im Hang zum Extremen – so muss ich gestehen, dass die Taten  der RAF eine gewisse Faszination auf uns ausübten. Mit dem Becks in der Hand wurden einige Abende mit lebhaften Diskussionen und einer kindischen Dummheit damit verbracht, Baader und Co. zu glorifizieren. Rückblickend betrachtet war es vor allem die Einstellung – das Hingeben an den Glauben an die eigene Sache, das Mobilmachen gegen den Staat der ehemaligen Täter, die Ignoranz aller Konsequenzen – was Eindruck auf uns machte. Es sei uns verziehen. Sofern wir den Worten nicht Taten folgen ließen und nachdem ein paar Jahre und Lebenserfahrungen unseren Horizont vergrößerten und wir uns unserer Stupidität entledigten. Man kann auch der Faszination entwachsen. Reifer werden. Weniger anfällig. Wehe denen, die nicht das Glück hatten.

Interessant ist in dieser Hinsicht, dass sich die Farben der Schnürsenkel zwar unterscheiden, die Wurzel, aus denen die Faszination für das Extreme gefüttert wird, aber weniger als uns womöglich lieb ist. Ob nun „links“ oder „rechts“, die Denkschablonen werden gespeist von derselben Zukunftsangst, vom selben mangelnden Selbstbewusstsein, vom selben Wunsch nach Schwarz-Weiß. Ja, obwohl wir rebellisch und anders sein wollten, im Grunde ging es doch nur um die Suche nach Gewissheit. Wissen wollen, wohin man gehört. Wer zu einem gehört. Plakativ gesagt, den Kampf zwischen Gut und Böse – nur eben, dass Helden und Bösewichter unterschiedlich definiert werden. Das Extreme bietet den Reiz, überzeugt sein zu können, wenn doch so wenig um einen herum sicher ist. Gewissheit ist Sicherheit, wenn Zukunft, Werte, Traditionen, Glaube auf tönernen Füßen stehen.

Und auch, was rechte Gesinnungen oder zumindest Sympathien betrifft, ist Friesland, jener Landstrich, der von Werbung und Tourismusindustrie als „kein schöner Land“ gepriesen wird, in dieser Hinsicht vergleichbar mit anderen „Problemgebieten“. Gerade im ländlichen Raum, also dort, wo es weniger multikulturelle Berührungspunkte gibt, wachsen Ressentiments besonders gut. Politisches Treibhausklima, sozusagen. Schon in meiner Jugend wurden einzelne Städte nach „rechts“ und „links“ eingeordnet und der einzige bekennende Skinhead meines Dorfes – gänzlich unbeeindruckt von unseren Einwänden, dass weder die Sony-Kopfhörer in seinen Ohren noch die Levisjeans um seine Hüften deutsche Markenprodukte seien – verkündete in überdeutlicher Lautstärke, dass er ein großdeutsches Reich wünsche. Und die Eingeborenen fanden mitunter auch wenig dabei, in feucht-fröhlichen Runden das Horst-Wessel-Lied anzustimmen – sofern man des Textes mächtig war.
Kriminalitätsstatistiken belegen Propagandadelikte, Volksverhetzung und Körperverletzungen, die rechtsextremistisch motiviert sind. Es gibt NPD-Ortsvereine und die in jüngster Zeit sich immer mehr Popularität erfreuenden Autonomen Nationalisten, eine „freie“ Nazi-Szene, die in ihrer auf Jugendkultur abzielenden Aufmachung besonders perfide ist. Verglichen mit Großstädten oder dichter besiedelten Orten sind die Zahlen sehr gering, oft im einstelligen Bereich (vorausgesetzt, die Statistiken geben tatsächlich jedes Vergehen wider). Reflexartig wird von den zuständigen Behörden die Situation beschwichtigend dargestellt. Immerhin tummelt sich kein brauner Mob, der Ausländer durch die Straßen jagt. Dennoch: Die Gefahr ist da, die Verführung präsent.

Es ist leicht, Opfer auszumachen, um sich selber größer zu fühlen. Und wo genügend Migranten fehlen, um seinen Frust abzulassen, findet man andere, die nicht ins selbst gewählte Schema passen. Behinderte, Obdachlose, Schwule: Für das dem persönlichen Geschmack genehmste Feindbild wird schon das Passende dabei sein. Die Farbe der Schnürsenkel ist da das geringste Problem.

Dienstag, 31. Januar 2012

Geschichte und Deutschland: Viel gelernt...?

von Tanja A. Wilken

Ich erinnere mich noch gut an lebhafte, politische Diskussionen im heimischen Familienverbund. Unweigerlich kam es auf Geburtstagsfeiern oder Weihnachtsfesten früher oder später auf „den Ausländer“ zu sprechen. Und damit zwangsläufig zum Krach. In meiner jugendlichen Naivität wehrte ich mich nämlich gegen Pauschalurteile und Aussagen, bei denen sich mir die Nackenhaare aufstellten. So war denn eine Meinung zum Thema Geschichte und Deutschland die, dass der österreichische Allmachtsfanatiker, obwohl er zwar mit dem ganzen Nationalsozialismus „übers Ziel hinausgeschossen war“, doch wenigstens so freundlich gewesen sei, dem deutschen Volk die Autobahn zu schenken. Und was „die Juden“ betrifft: Die wollte ja niemand nach dem Krieg bei sich haben. „Das hat man ja am Ende von Schindlers Liste gesehen!“ Meine emotionalen Ausbrüche wiederum ernteten kollektives Kopfschütteln: „Was regt sie sich denn so auf?“

Ja, was regte mich denn so auf? Die Geschichtsvergessenheit, die zuerst einmal keine Vergessenheit per se ist, weil man sich dazu überhaupt einmal hätte beschäftigen müssen? Die Tatsache, dass hier Menschen über andere urteilten, die sie kaum je aus nächster Nähe betrachtet hatten? Deren Kenntnisse über kulturelle wie religiöse Gepflogenheiten Anderer sich aus den handelsüblichen Vorurteilen und Klischeebildern zusammensetzten? Was mich nachhaltig beschäftigte, war, dass es bei den Gesprächen um alle Andersdenkende am Rande der kleinbürgerlichen Peripherie ging. Und das in diesen Gedanken vor allem eins nistete: latenter Rassismus und Antisemitismus. Diese Ressentiments schlummerten in einer Generation, die in den 70ern adoleszent geworden war, in einer Zeit, in der es schien, dass es nur zwei Möglichkeiten zur Verarbeitung mit den Verbrechen der Eltern- und Großelterngeneration gibt: konsequentes Verdrängen oder sich der Linksradikalen anschließen. Das ist natürlich sehr zugespitzt formuliert. Aber angesichts des Verdachts, den eine meiner Verwandten damals äußerte, nämlich, dass den Schülern heutzutage ja nur Schuldgefühle eingebläut werden, liegt es nahe, welcher Bewältigungsstrategie der Vorzug eingeräumt wurde.

Ist es so? Wurde mit moralischem Zeigefinger im Klassenraum gewedelt und der heranwachsenden Jugend die Verantwortung für Verbrechen eingetrichtert, für die sie laut Geburtsschein bestimmt nichts kann? Dazu folgendes: Ich (Jahrgang '79) war in diesem Klassenzimmer. Ich habe unzählige Stunden grobkörniges Archivmaterial aus den 70ern mit monoton-blechernen Stimmen im Hintergrund über mich ergehen lassen. Was daraus erwuchs, war weniger ein Schuld, als vielmehr ein Schamgefühl. Und ja, durchaus auch ein Gefühl für Verantwortung. Wir alle kennen den Allgemeinplatz, „wehret den Anfängen!“ Wenn auch in meiner Jugend durchaus plakativ und zum Teil inflationär gebraucht, spricht aus ihm doch Wahrheit. Um Geschichte aus dem Reich des zu Vernachlässigbarem, weil bald Vergessenen in das der Gegenwart zu überführen, ist das Erwecken eines diffusen Gefühls von Verpflichtung, Verantwortung und Verständnis nötig. Es geht nicht darum, auf die Großeltern einzureden und laut polternd Schuldeingeständnisse zu fordern. Sondern darum Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Toleranz in den Blickpunkt unseres Interesses zu stellen. Geschichte ist nicht nur die Lehre der Vergangenheit. Es ist der Pfeiler unserer Gegenwart und der Wegweiser in die Zukunft.

Und wie kann es mit dem Wahren der Vergangenheit und ihrem Wert dafür, uns eines Besseren zu belehren, bestellt sein – den Vorwurf des Eintrichterns von Schuldgefühlen in jungen Köpfen nicht zu vergessen – wenn laut einer aktuellen Forsa-Umfrage jeder fünfte Erwachsene Deutsche unter Dreißig mit dem Begriff „Ausschwitz“ nichts mehr anzufangen weiß? Wenn zwanzig Prozent der Deutschen latent antisemitisches Gedankengut pflegen? Und was heißt schon „latent“? Nicht stark genug zum Häuseranzünden und Grabsteine beschmieren, aber präsent genug für Misstrauen, Ablehnung, Ignoranz. Antisemitismus ist der Boden, auf der rechtsextreme Positionen ihre Saat streuen. Nicht jede Ernte mag aufgehen, aber wirft man noch Perspektivlosigkeit, staatliche Ignoranz und falsche bürgerliche Ignoranz hinzu, ist bei manchen der Schritt von „Jude raus!“ zur nackten Gewalt nicht weit. Ist das die Art, mit der eigenen Geschichte umzugehen?
Übertreibe ich nicht ein bisschen? Ach ja?

Der Verfassungsschutz brauchte Jahre, um die Morde an Mitbürgern mit Migrationshintergrund mit einem rechtsextremen Hintergrund zu verbinden. Das Wort „Döner-Morde“ wurde zum Unwort des Jahres erklärt – nachdem es wochen- und monatelang durch Boulevardblätter und „seriöse“ Medien gepeitscht wurde, ohne das sich groß Unmut über diese Art der Betitelung von Gewaltverbrechen regte. Die Erziehung und Beaufsichtigung unserer Jugend wird in manchen östlichen Landstrichen komplett den Rechten überlassen (was nicht einer gewissen bitteren Ironie entbehrt): ob Fußballvereine oder Krabbelgruppe, blonde arische Burschen und Mädels kümmern sich liebevoll um den Nachwuchs, während sich viele Bürger aufgrund ihrer Hautfarbe und Religionszugehörigkeit nicht vor die eigene Tür trauen. Polizei? Ein Staat, der seine Verantwortlichkeit demonstriert? Fehlanzeige!
Im Bundestag mag man sich schockiert zeigen über die Veröffentlichung des ersten Antisemitismusberichts. Verwundern dürften die Ergebnisse aber tatsächlich keinen. Von damals zu heute ist von der viel beschworenen Aufklärung und Gegenoffensive nicht viel zu sehen.
So schaffen die Ritualisierung von Gedenktagen oder feierliche Ansprachen keine Alternativen, keine Perspektiven, die helfen würden, stark genug gegen die Verführung zu sein. Lichterketten gegen Rechts mögen aufmerksam und gut gemeint sein – sie helfen nicht gegen das Gift in Köpfen und Herzen.

Wir sind weit davon entfernt es uns erlauben zu können, sich unserer Geschichte nicht zu erinnern.

Freitag, 23. September 2011

Das Ende eines Jahrzehnts...

von Tanja A. Wilken

Jedes Jahrzehnt hat seine Geburtsstunde. Eine die nicht zur Silvesternacht mit dem Zwölfuhrschlag, mit Küssen, guten Wünschen und Umarmungen beginnt. Diese „Geburtsstunden“ tauchen in Chroniken auf, in Geschichtsbüchern. Sie markieren Wendepunkte, die das Leben Tausender, manchmal das von Millionen betreffen und nachhaltig verändern. Sie prägen das soziale Gefüge und liefern den Hintergrund für politische Entscheidungen. Und sie stellen uns auf eine Probe, von der oft erst die nachfolgenden Generationen beurteilen können, ob und wie wir sie bestanden haben. Der Knall, der das letzte Jahrzehnt einläutete, erfolgte am 11.09.2001, als um 8:46 Uhr ein Passagierflugzeug in den nördlichen Turm des World Trade Centers raste.

Der Betäubung folgten die Wut und der Wunsch danach, den Verantwortlichen habhaft zu werden. Auf das naturgegebene Recht auf Selbstverteidigung folgte die Hysterie. Die Vernunft erlag den Emotionen. Nicht nur den USA wurde ein empfindlicher Schlag verpasst. Nachdem sich al-Qaida offiziell zu den Anschlägen bekannte, nachdem Osama bin Laden offen die Kriegserklärung aussprach, nachdem klar wurde, dass die Menschen, welche die Flugzeuge entführt und gesteuert hatten, jahrelang unentdeckt in Europa gelebt und hinter einer bürgerlich-westlichen Fassade ihre Befehle zum großen Schlag erwartet hatten, musste sich jeder Staat der demokratischen Welt darauf gefasst machen, der nächste im Fadenkreuz zu sein.

Diese Situation veränderte unsere Sicht auf die Welt und sie drängte Fragen auf, die wir uns vorher tunlichst nicht gestellt hatten: Darf man vollbesetzte Passagierflugzeuge abschießen? Sind das Sammeln und unbefristete Speichern von Kontodaten, Internetsuchverläufen, Handyortungen eine Sache der nationalen Sicherheit? Ist Folter zulässig? Wenn ja, in welchem Maße, bevor es unangenehm für den Folternden wird? Soll die Bundeswehr im Innern eingesetzt werden dürfen? Darf man auf bloßen Verdacht „potenzielle Terroristen“ in Verwahrung nehmen? Ohne Anklage? Ohne Rechtsbeistand? Darf man als demokratische Gesellschaft Menschen bewusst Allgemeine Bürgerrechte absprechen, ja, allgemein anerkannte Menschenrechte? Die Veränderung, die sich vollzog, war auch sichtbar. An Szenen auf Flughäfen, in denen Menschen Plastiktüten mit abgefüllten Flüssigkeiten tragen. Am Anblick von Polizisten und Grenzschützern mit Maschinengewehren an öffentlichen Plätzen. An Nachrichtenbildern, die zeigen, wie die Büste Saddam Husseins enthauptet wird. An Aufnahmen von Soldaten, die triumphierend grinsend über am Boden kniende nackte Häftlinge stehen. An Bildern, die Kolonnen von mit Kapuzen verhüllten Häftlingen hinter Stacheldraht zeigen.

Osama bin Laden wollte den Krieg gegen den Westen. Gegen eine ihm verhasste Kultur. Knapp 3000 Menschenleben endeten am 11.09.2001. Man kann davon ausgehen, dass er mit einem Gegenschlag rechnete. Wer eine Supermacht herausfordert, zumal eine so stolze, kann bestimmte Schritte kalkulieren. Wäre es abwegig zu denken, dass bin Laden plante, uns auf sehr dünnes Eis zu führen, um seinen Verbündeten zu zeigen, wie es um unsere Werte und Ideale, um unser Freiheitsverständnis tatsächlich bestellt ist? Vielleicht war es nur Zufall. Aber vieles was in der Folge geschah, war nicht weniger als die Selbst-Demontage der Demokratie. Anstatt die Daumenschrauben kontinuierlich anzuziehen – indem die Nato-Staaten beispielsweise die Unterstützung bei der Jagd auf die Verantwortlichen einfordern, Sanktionen einleiten und erst als letztes Mittel das militärische Eingreifen in Betracht ziehen – folgte der war on terror, verpackt in kernigen Botschaften und Machtposen. Die moralische Keule traf jeden, der auch nur die leisesten Zweifel an den Mitteln des Feldzugs äußerte. Der eingeläutete Gegenschlag gegen den Terrorismus bescherte uns unangenehme Wahrheiten über das eigene Selbstverständnis und auf welch unsicherem Boden unsere Werte stehen, von denen wir doch so gern verlangen würden, dass sie sich alle Kulturen zu Eigen machen. Wir deckten neue Dimensionen von Zynismus, Ignoranz und Rechtschaffenheit auf, die wir vielleicht lieber nie wahrgenommen hätten. Amerikanische und europäische Rechtsgelehrte diskutierten ernsthaft über den staatlich legitimierten Einsatz von Folter. Das amerikanische Justizministerium gestattete die Verwahrung und „Befragung“ von Menschen auf einem eigens eingerichteten rechtsfreien Raum. Die CIA und anhängende Organisationen entführten Menschen, um sie in Länder zu senden, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen. Die Häftlinge von Guantánamo Bay wurden zu „ungesetzlichen Kombattanten“ erklärt, um ihnen so die Rechte zu entziehen, die jedem Kriegsgefangenen laut den Genfer Konventionen zustehen. Eine Regel nach der anderen wurde gebrochen. Ein Gesetz nach dem anderen gebeugt. Aber wäre es nicht naiv anzunehmen, dass man sich im Krieg tatsächlich immer an Regeln halte? Nun, sicher ist es das. Allerdings verhält es sich nun einmal auch so, dass die Kriege, welche im Rahmen des globalen Schlags gegen die Terroristen eingeläutet wurden, auf völkerrechtlich tönernen Füßen stehen. Saddam Hussein ist tot. Nur war der Angriff auf den Irak nicht gerechtfertigt, die entscheidenden Beweise gefälscht. Und Afghanistan? Zwar konstatierte der UN-Sicherheitsrat kurz nach 9/11 das die „Gefährdung des Weltfriedens“ gegeben sei – den „bewaffneten Angriff eines Staates“, welcher allein als rechtlicher Auslöser für Akte der Selbstverteidigung gelten könnte, sah er allerdings nicht. Um Angriff sowie Bündnisfall zu rechtfertigen, müssten die USA die aktive Beteiligung der afghanischen Regierung an den Terrorakten beweisen. Diesen Beweis sind sie bis heute schuldig geblieben.

„Der Zweck heiligt die Mittel.“ Aber welche Ziele wurden erreicht?

4792 Soldaten der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten starben im Irak. 2700 Amerikaner und Koalitionstruppenangehöriger bis zum heutigen Tage in Afghanistan. Die meisten waren zwischen 20 und 22 Jahren alt. Irak ist ein Land ohne Diktator – und ohne tief greifende Struktur. Der Krieg in Afghanistan nimmt kein Ende. Gestärkt wurde der Iran in seinen antiamerikanischen / antiisraelischen Ressentiments. Im Mai 2011 saßen immer noch 171 Häftlinge in Guantánamo Bay ein. Der CIA soll im Zuge der Antiterror-Ermittlungen etwa 3000 Menschen entführt haben.

Dieses Jahrzehnt ist zu Ende. Heute können Touristen und Hinterbliebene das Mahnmal am Ground Zero besuchen. Die Lücke in der Skyline Manhattans wird mit neuen Bauwerken gefüllt. Die sichtbaren Trümmer sind weggeschafft. „Wir müssen die Werte unserer Demokratie erhalten. Dies sollte das Maß unserer Stärke sein“, sagte Barack Obama in seiner Ansprache zum 10. Jahrestag der Anschläge. Bleibt zu hoffen, dass das neue Jahrzehnt genutzt wird, um uns unserer Werte wieder zu erinnern und sie unter den Trümmern hervorzuholen.

Donnerstag, 8. September 2011

Historische Zeiten...


von Tanja A. Wilken


Sechs Monate sind vergangen zwischen dem „Tag des Zorns“, dem Aufruf der Regimegegner gegen Muammar al-Gaddafi, und der Einnahme der Herrscherresidenz in Tripolis. Die Menschen in Libyen feiern. Sie tanzen auf den Straßen. Maschinengewehrsalven erleuchten die Nächte, nicht als sichtbare Zeichen der Grabenkämpfe zwischen Getreuen und Aufständischen, sondern zur Illuminierung des Triumphs. Auf Plakaten und Jeeps prangt die Botschaft „Thanx NATO“. Die westlichen Kräfte, allen voran Frankreich, mauserten sich vom zögerlichen Zaungast zu Unterstützern einer historischen Bewegung: Der Ausbruch der lauten Empörung in den Ländern Nordafrikas. Tunesien und Ägypten entledigten sich bereits ihrer Diktatoren, al-Gaddafi ist noch auf der Flucht. Aber „frei“ ist er nicht mehr. Die Reihen seiner Freunde lichteten sich, nachdem sich sogar die Arabische Liga im Februar dazu entschloss, ihn zur „persona non grata“ zu erklären; zu einem Zeitpunkt, an dem sich die EU noch mit einer härteren Gangart schwer tat.

Mit der Erstürmung von Tripolis ist der Spuk noch nicht vorbei. Und die, die bereits jetzt hämisch schmunzelnd verlautbaren lassen, dass mit dem vorläufigen Ende des Bürgerkriegs nichts gewonnen ist, haben recht: Man errichtet nicht über Nacht blühende Demokratien. Bei aller Sorge und Nachdenklichkeit, bei aller Vorsicht und Skepsis, sollten wir es uns nicht entgehen lassen, an diesem Prozess teilzuhaben. Das libysche Volk, sofern das von diesem selbst gewünscht wird, zu unterstützen, ist für unsere eigene Positionierung und Sicherheit ein ebenso wichtiger Schritt, wie die Verabschiedung der Resolution 1973. Was nun folgen muss, die politische und wirtschaftliche Stabilisierung Libyens, ist ein langer Weg. Und einer, den es sich zu gehen lohnt. Besonders Deutschland sollte ein besonderes Interesse daran haben, das durch seine unterlassene Hilfeleistung verlorene Vertrauen bei seinen Bündnispartnern wiederzugewinnen.

Die Freigabe der Gaddafi-Milliarden, geerntet durch die jahrzehntelange Ausbeutung des Landes sowie die Anerkennung der Übergangsregierung als offiziellen Ansprechpartner sind erste Schritte. Das Volk selbst befindet sich bereits in der Phase des Wiederaufbaus. Die Bereitstellung von Hilfsgütern und Nahrungsmitteln ist dafür wichtig. Für die lokalen Komitees im ganzen Land bräuchte es Unterstützung bei der Installation von Gerichten. Weitreichender und von der deutschen Kanzlerin bereits zugesagt, ist die Ausbildung von Polizisten. Immerhin laufen derzeit Dreizehnjährige mit Waffen durch die Straßen Bengasis und Tripolis‘. Freiheit erkämpfen ist eine Sache, ein Volk auf dem Weg zur Selbstbestimmung derart zu unterstützen, dass aus der Niederschlagung der einen Diktatur keine neue entsteht, eine andere. Dabei sollte Europa nicht seine jahrhundertealten Fehler wiederholen. Wir haben die Kolonialzeit hinter uns und dies ist auch kein Einführungskurs „Demokratie für Dummies“. Entscheidend ist, was will das Volk Libyens? Will es Hilfe? Wenn ja, und die Zeichen stehen gut, dann ist Hilfe selbstverständlich an westliche Interessen gekoppelt. Aber diese, unsere Interessen müssen eine Partnerschaft anstreben, keine fortgesetzte Ausbeutung. Und ja, Europa wird Bequemlichkeiten einbüßen auf lange Sicht; wirtschaftliche, wenn ein arabischer Staat die gleichen Anteile vom Kuchen verlangt und politische, wenn wir Nordafrika nicht mehr als Abfangbecken für ungeliebte Flüchtlinge ins Spiel bringen können.

Wir müssen Libyen helfen, weil ein Land im Umbruch angreifbar ist (was immer auch eine potentielle Gefahr für uns bedeutet). Seine Nachbarn betrachten die Entwicklung nicht nur wohlwollend. Und sowohl im Land selbst wie auch in den angrenzenden Staaten finden sich weiter Gaddafi-Treue. Ein Staat im Wandel ist beeinflussbar. Nicht nur der Westen fragt sich, wie groß der Einfluss von al-Qaida-Sympathisanten innerhalb des Übergangsrats ist, und Länder wie Algerien, welche der Herrscherfamilie Asyl gewährten, lehnen die westliche Einmischung, militärisch wie politisch, konsequent ab. Trotzdem hat die internationale Gemeinschaft gute Chancen, nicht nur weil Algerien relativ isoliert da steht, sondern weil durch die Gewährung der militärischen Unterstützung ein neuer Grundstein gelegt wurde. Entgegen den Unkenrufen mancher arabischer Länder - wie Algerien und Saudi-Arabien - sind die Libyer selbst dankbar für die NATO- Hilfe. Dies ist eine Chance, nach dem „christlichen Feldzug“ gegen die radikalislamische Bedrohung, nach den Verschleppungen und der Folter, nach der Rechtsbeugung und dem westlichen Verrat der eigenen Werte und der Selbstbeschädigung der Demokratie, eine Saat für Partnerschaften ohne Argwohn auszulegen. Wir, die wir doch immer so großen Wert auf „Stabilität“ in den afrikanischen Ländern legen, fragen wir uns, was ist besser für die Sicherheit des Westens, was wirkt dem immer wieder beschrienen Untergang des Abendlandes wirksam entgegen: Misstrauen und Paranoia oder ein freier, selbstständiger Verbündeter? Müssen wir uns die Frage tatsächlich stellen, warum wir, warum Europa und die USA, ein gesondertes Interesse an den Entwicklungen im arabischen Raum haben?

Um den Wandel zu festigen, braucht das Land die Zusammenarbeit mit Europa. Wir sollten dies nutzen, nicht ausnutzen, um eine Balance herzustellen. Wir haben wirtschaftliche Interessen (Öl und Gas, Solaranlagen), Libyen hat Potenzial in Form junger, williger Menschen, die lernen und leben wollen, die ihr Land aufbauen wollen. Wir können Unterstützung bieten bei der Ausbildung, beim Studium, bei der Gesetzes- und Parlamentsbildung, bei der Errichtung staatlicher Institutionen und dem Bankenwesen. Mit der politischen Stabilität verbessert sich der Boden für wirtschaftliche Zusammenarbeit, für Investitionen. Vom Austausch profitiert jeder Staat mehr als von der Einigelung und Abschottung. Die Jungen Libyens sind derzeit mehr am Schritt in die Zukunft als an dem in die Vergangenheit in Form religiöser Indoktrination interessiert. Nicht zufällig hat sich al-Qaida bisher offiziell sehr zurückhaltend gegenüber dem „Arabischen Frühling“ geäußert, sind doch die Forderungen der Rebellen und Demonstranten von denen der Gotteskrieger zu verschieden. Dies gilt es zu nutzen, mit ausgestreckter Hand, nicht mit zuknallenden Türen. Also, vielleicht sollte Europa, besonders auch Deutschland, über Stipendien und Visa für Lernwillige nachdenken. Wirtschaftlich und politisch profitieren wir auf lange Sicht davon.

Wir sollten nicht davon ausgehen, dass die Geschichte in Nordafrika schneller voranschreitet als in Europa. Der lange Atem ist häufig das, was uns fehlt. Wir Europäer müssen es ja wissen, denn auch die Französische Revolution, unser historischer Aufstand, führte nicht nahtlos in blutfreie, liberale Staatengebilde: die europäischen Länder brauchten ein ganzes Jahrhundert, um vom Staatsstreich über gewalttätige Unterdrückung zur Demokratie zu gelangen. Daran sollten wir uns erinnern bei der Frage, ob wir unbeteiligte Beobachter bleiben wollen.

Mittwoch, 24. August 2011

Feind im Innern...

von Tanja A. Wilken

Seit dem 22. Juli heißt es Umdenken. An diesem Tag erreichte der Terror Norwegen: zuerst detonierte im Osloer Regierungsviertel eine Bombe. Während verletzte Menschen noch durch die vom Trümmerstaub vernebelten Straßen liefen und Polizei und Feuerwehr mit Hundertschaften vor Ort – und abgelenkt – waren, begann auf der Insel Utøya ein Blutbad. Anders Behring Breivik, 32 Jahre jung, bewaffnet mit einem Halbautomatikgewehr, welches er mit Teilmantelgeschossen geladen hatte, machte Jagd auf die jugendlichen Teilnehmer eines sozialdemokratischen Zeltlagers.

Während die ersten Schlagzeilen über den Bildschirm liefen und bevor der Täter identifiziert war, hatten sowohl die ersten Terrorismusexperten wie auch die ersten Blogger und selbsternannten Verteidiger Europas auf den einschlägigen Sites die Quelle des Angriffs ausgemacht. Und auch viele von uns Toleranzbefürwortern dachten, dass der Terror von radikalislamischer Seite auf die Norweger einschlug. Beschämend? Nachvollziehbar? Durch die Terrorakte in Norwegen wurde einmal mehr unser Reflex deutlich, die Feinde unserer Gesellschaft zuerst im muslimischen Lager zu suchen. Wir alle waren wohl überrascht und zugegeben, vielleicht sogar ein wenig erleichtert, als klar wurde, dass der Täter Norweger ist. Ein Mann aus dem Westen. Und dennoch keiner „von uns“. Breivik, das zeigte er eindeutig durch seine Tat, sieht sich nicht als Europäer, nicht als Freund einer offenen Gesellschaft, vermutlich nicht einmal als Demokrat.

Ist Breivik die Personifikation des „neuen Feindes“ im Innern? Ist er die logische Konsequenz, die Weiterführung der Hasstiraden und der Aufwiegelung von rechtspopulistischen Parteien wie auch den anonymen Internetforen, die sich über die „Unterwanderung Europas durch den Muselmann“ auslassen und sich zusammen in ihrem ideologischen Sumpf suhlen? Ist er der, der nur den nächsten Schritt wagte, vom Wort zur Tat?
Breivik war ein Einzelgänger. Er hatte keine Familie, zu der er großen Kontakt pflegte. Zuletzt lebte er allein auf einem Bauernhof. Einige Jahre war er Mitglied der norwegischen Freiheitspartei, die Partei, die mit Stimmungsmache auf ansehnliche 23 Prozent kommt und ein großer Konkurrent der herrschenden Sozialdemokraten ist. Mit Breiviks kurzer Mitgliedschaft macht man derzeit natürlich keine Werbung, mit seinem Wahn will man sich nicht identifizieren lassen. „Von uns hat er das nicht!“ Tatsächlich schien Breivik die Politik nicht radikal genug zu sein.

Im worldwideweb inszenierte er sich als passionierter Jäger und als Kreuz- und Tempelritter. Er gab an, Mitglied einer skandinavischen Freimaurer-Loge zu sein. Breivik war allem Anschein nach ein junger Mensch auf der Suche nach Zugehörigkeit. Einer von vielen, die ihren Platz nicht finden können. Das ist nichts Ungewöhnliches. Vielen von uns geht es nicht anders. Aber Breivik war kein Fünfzehnjähriger in den Wirren der Pubertät. Seine Identitätssuche führte ihn zuerst zu Gruppierungen mit Weltverschwörungstheorien als Grundlage und weiter, als dies nicht mehr reichte, zur verstärkten Radikalisierung durch rechte Internetforen, in denen er sich mit amerikanischen und europäischen Bloggern austauschte. Er orientierte sich an jener namens- und gesichtslosen Internetgemeinde, die vorgeben, die „Stimme der Mehrheit“ zu sein, und sich gegen die islamische Invasion und gegen die weichen, liberalen Mainstreammedien zur Wehr zu setzen. Diese „Mehrheit“ sucht nicht die öffentliche Diskussion, sie pflegt keine Konfrontation in offenen Debatten. Auch Breivik blieb, bis zum großen Auftritt, anonym.

Wer ist nun schuld? Das Internet und seine Hassprediger, der pöbelnde Mob, der sich seine Fakten zurechtbiegt, bis sie zur hauseigenen, islamophoben Idee passen? Oder womöglich die Religion? Die norwegische Polizei bezeichnet Breivik als „christlichen Fundamentalisten“. Manche werden sich verwundert die Augen reiben: „Gibt es so was denn?“ Ist auf beiden Seiten der Glaube die Wurzel allen Übels? Auch hier haben wir Parallelen, wenn man sie denn suchen möchte, zum Radikalislamismus: Inquisition auf der einen, Dschihad auf der anderen Seite. Hier Hexenverbrennungen, dort Selbstmordattentäter. Hier Oslo, dort der 11. September 2001. Hier wie dort ist Religion ein Spalter und wird als letzter verbliebener Schutzwall einer gemeinschaftlichen, kulturellen Identität benutzt (oder missbraucht). Der Mensch ist nur ein kleines Wesen in einer ungeheuren Welt, deren Zusammenhänge er nie ganz verstehen wird. Die Folge ist Angst. Und Religion, Glaube, ist ein Anker. Er vereint. Und separiert. Aber bevor man von der christlichen Gemeinde in Oslo eine öffentliche Stellungnahme und Distanzierung vom „Fundamentalisten“ Breivik verlangt, sollte man sich vor Augen halten, dass es Menschen sind, die Glauben interpretieren und praktizieren. So wie nicht jeder Moslem radikal ist, so ist auch nicht jeder Katholik automatisch der Meinung, die heilige römische Inquisition wieder ins Leben rufen zu müssen, um Ordnung zu schaffen.
Das Böse, es ist der Mensch. Das Individuum.

Als weiterer Faktor kommen noch die politischen Parteien in Frage. Die Aufwiegler ebenso wie die Beschwichter, die offensichtliche Probleme nicht beim Namen nennen, keine konstruktiven Debatten einleiten können, ohne sich gegenseitig mit den Prädikaten „Nazi“ und „Islamhasser“ zu belegen. Was im politischen Umgangston Gang und Gäbe ist, ist auch in unserer Gesellschaft unübersehbar. Beschimpfungen statt Argumentation. Über den Kamm scheren, statt Differenzierung. Den populistischen Parteien geht es weniger um den proklamierten „Schutz“ Europas oder des Heimatlandes als darum, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Es geht nicht um Zukunft und Gestaltung, sondern um die Wählerstimmen des kleinen, verängstigten Mannes.

Derzeit geht die Suche nach den oder dem Schuldigen noch weiter. Wie lange wird es dauern, bis der Reflex wieder einsetzt? Bis ein paradoxer Umkehrschluss nahelegt, dass es im Grunde doch die Muslime sind, die schuld sind? Nicht, weil sie geschossen haben. Nicht, weil der Mörder aus ihrer Mitte kommt. Sondern, weil sie da sind. Weil es sie gibt. Weil ihre Anwesenheit Menschen wie Breivik stört. Weil sie, als Sündenböcke und Minderheit, von anderen Menschen verteidigt werden. Weil sie immer im Fokus stehen. Sei es bei Integrationsdebatten, Sozialleistungsschwindel, Kriminalität oder sonst wo. Wird Norwegen den Weg der Niederlande gehen, welches sich nach dem Mord am Regisseur Theo van Gogh im Jahre 2004 vom Vorzeigeland der kulturellen Vielfalt und Toleranz zu einer Gesellschaft der Angst und des Misstrauens wandelte? Anders Behring Breivik würde das gefallen. Es wäre ein wichtiger Sieg in Richtung der schrittweisen Auflösung der offenen Gesellschaft, die Menschen wie ihm ein Dorn im Auge sind.

Es ist bezeichnend, dass er sich als Opfer keine muslimische Gemeinde versammelt zum Freitagsgebet aussuchte. Er attackierte den „Mainstream“. Die verweichlichten Demokraten, die, anstatt ihr Land vor „denen“ zu schützen, „diese“ auch noch ungeniert auffordern, zu kommen. So wie wir Breivik als unseren Feind im Innern identifizieren, so sah er auch uns. Für ihn sind die Liberalen, die Toleranten, die Kritiker, die Offenen die Feinde im Innern. Unverständlich? Nicht doch! Auch al-Qaida tötete bisher weit mehr eigene Glaubensbrüder als ungläubige Westler. Es ist eine logische Konsequenz: die Andersdenkenden, die Fremden kann man vertreiben. Die „eigenen“ Leute, die sich im Innern gegen die Ideologie stellen – und womöglich weiter mit dem „Feind“ paktieren – gilt es zu identifizieren. Und ruhig zu stellen. Breivik folgt der Tradition historisch bekannter Diffamierungs- und Denunzierungsmaschinerien (Jakobinerdiktatur in Frankreich des 18. Jahrhunderts, Deutschland in den 1930ern und 40ern, Lenins und Stalins Sowjetunion und noch einige mehr). Sein Hass richtet sich gegen die eigenen Leute, die in seiner Vorstellung Verräter am eigenen Land sind.

Wer ist schuld? Die „Nationalen“? Die „Sozialdemokraten“? Der lasche oder der harsche Umgangston? Die Muslime? Die Religion?
Die Verantwortung am Tod der Menschen vom 22. Juli 2011 trägt der Attentäter. Es ist seine verblendete Weltsicht, die das eigene Erleben und Denken absolut setzt und keine andere als die eigene zu dulden bereit ist. Anders Behring Breivik wählte die Abschottung. Er blieb in der Welt, die er kannte und in der er sich verstanden fühlte, allen Gegenargumenten zum Trotz. „Europa wird nicht nur vom Islam, sondern auch vom Gutmenschentum unterwandert“, das ist seine Überzeugung. Dass es in Norwegen gerade einmal einen muslimischen Bevölkerungsanteil von drei Prozent gibt, dass z.B. auch die Geburtenzahlen von Türken seit Jahren rückläufig sind und es insgesamt eine höhere Ab- denn Zuwanderung gibt, so dass eine geplante „Invasion Europas“ unwahrscheinlich ist, dass von einem linken Mainstream angesichts des gesamteuropäischen Aufstiegs von populistischen Parteien und auflagenstarken „konservativen“ Medien kaum die Rede sein kann, dass sich die europäischen Regierungen mehr Gedanken um Währung und Rüstung, denn um Bildung und Hilfsmaßnahmen für die Flüchtenden und Hungernden machen, stört die Argumentationslinie der Breiviks unsrer Tage nicht.

Aber uns sollte es stören! Nicht nur weil wir jetzt ganz offiziell ins Fadenkreuz gerückt und zu Feinden erklärt wurden. Wollen wir den Populisten und Radaubrüdern das Feld überlassen? Uns von Menschen, die ihren Platz nicht gefunden haben und sich an den (selbst gewählten) Rand gedrängt fühlen, diktieren lassen, wie wir leben wollen und wem unser Mitgefühl gilt? Sollen jene uns unsere Fragen nach Zugehörigkeit beantworten, die glauben, in Pamphleten, Internetforen und Medien den Stein der Weisen gefunden zu haben? Soll Stereotypie über offene Augen und Ohren siegen? Sollen wir den Feinden der Demokratie und der offenen Gesellschaft – die nicht nur eine Gesellschaft „der offenen Arme“ ist, sondern eine Gesellschaft der Kritik und Gegenkritik, der unterschiedlichsten Lebens- und Glaubensauffassungen unter dem Dach gleichermaßen anerkannter Rechten und Pflichten – das Feld überlassen? 

Wie viel „Erfolg“ Breivik mit diesem brutalen Übergriff auf unsere Gesellschaft haben wird – die Beantwortung dieser Frage liegt allein bei uns.

Montag, 8. August 2011

Katastrophe mit Ankündigung...

Wieder einmal ist es soweit: in Ostafrika ist eine große Hungersnot in vollem Gange. Hunderttausende Somalier fliehen über die Grenze nach Kenia. Aber auch in Äthiopien und Kenia selbst blieb der Regen aus und die anhaltende Dürre vernichtete die Ernte und ließ das Vieh verdursten. Das UN- Welternährungsprogramm WFP sowie die unzähligen anderen internationalen Hilfsorganisationen bitten die internationale Gemeinschaft um finanziellen Beistand in Milliardenhöhe. Das größte Flüchtlingslager der Welt, Dadaab, einst angelegt für 90.000 Menschen, platzt aus allen Nähten. Hilfslieferungen werden behindert, Mitglieder von Organisationen bedroht. Kamerateams filmen große Flieger, LKWs, Camps und fruchtlose Steppe. Die bekannten Bilder von schiefen Hütten, von leeren Töpfen, von Kindern auf dünnen Beinchen mit aufgeblähten Bäuchen flimmern allabendlich über den Fernsehbildschirm. Die Welt ist wieder dabei beim „Elend Afrika“.

Vergessen sollte man aber nicht, dass diese Hungersnot nicht übles Schicksal ist oder ein drohender Fingerzeig Gottes. Naturkatastrophen sind schrecklich, ohne Frage. Aber gerade die Dürre in Afrika ist kein aus dem Nichts hereingebrochenes Unglück. Diese Katastrophe hatte eine lange Vorwarnzeit. Sie kam mit Ankündigung. Und darauf kann man sich vorbereiten. Man muss also sagen, dass die Hilfe verschleppt wurde. Und zwar nicht nur die Soforthilfe. Die Politik wartete lieber ab, als die ersten Warnungen ausgegeben wurden. Der Beitrag der großen Staaten kam erst – und auch dann eher zögerlich -, als die Maschinerie des Mitleids in Form von Spendenaufrufen anlief und der Otto Normalbürger tief in seine Taschen griff.
Die Weltgemeinschaft wird zunehmend knausriger, was wohl auch wie der Soziologe Jean Ziegler bereits betonte, daran liegen mag, dass man in den letzten Jahren die heimischen Bankhäuser und die lokale Wirtschaft wieder auf die Beine bringen musste. Derzeit haben die Wohlbetuchten ihre eigenen Päckchen zu tragen: So müssen beispielsweise die Amerikaner erkennen, dass sie finanziell doch nicht mehr so gut da stehen und bekriegen sich im Kongress gerade gegenseitig und die EU muss ihre bankrotten Südländer auf Kurs bringen. Geld für Brot für die Welt? „Jetzt grad nicht, danke.“

So bleibt es vor allem an der „Mitleids-Industrie“ (unter diesem Begriff summierte die niederländische Journalistin Linda Polman die global agierenden Hilfsorganisationen) finanzielle Soforthilfe zu beschaffen. Damit werden aber die Probleme nicht kleiner. Im Gegenteil: seit Jahren stehen die Geldspenden wie auch die zum Teil wenig durchdachten Projekte in der Kritik, Afrika nicht zu helfen, sondern klein zu halten. Nicht die viel geforderte Hilfe zur Selbsthilfe wird angestrebt, sondern der Korruption Tür und Tor offen gehalten. Milizen, schwache Regierungen, Clans bereichern sich an dem, was den Ärmsten des Landes zu gute kommen soll. Im Kampf um die Spendengelder operieren die Entwicklungshilfeorganisationen gern gegeneinander statt miteinander. So zwingend und dringend Soforthilfe sein mag, das Heilmittel für Afrika ist sie nicht.

Einen wesentlicheren Beitrag kann nur die Politik liefern, um die Verhältnisse zu verbessern und auch um sich auf Notsituationen wie die derzeitige besser vorzubereiten. Es ist dringend angeraten, die wirtschaftlichen Beziehungen zu ändern, unser Bild von Afrika zu ändern. Wir vergessen gern: Nicht in ganz Afrika herrschen Mangel und Hunger. Nicht in allen afrikanischen Staaten sind korrupte Beamte, semidiktatorische Regierungen und einfallende Islamisten am Werk. Somalia, welches seit Ende der 80er Jahre im Bürgerkrieg zerrieben wird, ist nicht das Aushängeschild Afrikas. Ein Gegenbeispiel dafür, dass aus einer Militärdiktatur auch eine Demokratie werden kann, ist u.a. Ghana. So wie in vielen Teilen Afrikas Armut, Kriege, Hunger und Aids das Leben der Menschen bedroht, so gibt es auch funktionierende Kleinwirtschaft, Infrastruktur, Mobiltelefone und Internet. Nicht alle Afrikaner sind Stammesmitglieder, verhungernde Gestalten und Medizinmänner. Dem Europäer mag es vielleicht nicht in den Sinn kommen, aber er blickt immer noch wie ein Kolonialherr auf Afrika hinunter. Auf die armen, ungebildeten Schwarzen, die sich nicht selbst helfen können. Nun, ganz falsch ist das vielleicht nicht: Man kann sich nicht selbst helfen, wenn man nicht ernst genommen und stattdessen in seiner Hilfslosigkeit belassen wird. So wird Entwicklungsarbeit zu einer Farce statt zu einer echten Hilfe.
Es wäre an der Politik, endlich wahre Diplomatie walten zu lassen und die Grundlagen der wirtschaftlichen Beziehungen zu überdenken. Es braucht neue Konzepte für den Aufbau einer zukünftig gleichberechtigten Partnerschaft. Wirtschaftlich und politisch ist Afrika (noch) nicht auf einer Stufe mit seinen Geschäftspartnern. In ungleichen Beziehungen muss einer Seite übergangsweise mehr eingeräumt werden – allerdings, um den Mangel kompensieren zu können und nicht, um den ohnehin Stärkeren noch weiter zu bevorteilen. Der Geldgeber hat seine eigenen Interessen, natürlich. Aber was ist mit den Interessen der Afrikaner? Warum verweigert man ihnen die Möglichkeit, Handel zu treiben, Geld zu verdienen und sich selbstverantwortlich aus der Abhängigkeit zu befreien? Warum lässt man zu, dass dieselben Spekulanten, die schon den Immobilien- und Finanzmarkt an den Abgrund drängten, auch die Agrarpreise in die Höhe trieben, so dass sich die Bauern die eigenen Produkte nicht mehr leisten können, um sich für Notlagen wie diese einzudecken?

Viele von uns stöhnen über die Spendenaufrufe, misstrauen der milliardenschweren Industrie dahinter, äußern den Verdacht, dass das Geld sowieso nicht ankommt und betrachten Afrika als hoffnungslosen Fall. Es gebe aber konkrete Wege dies zu ändern. Durch den Aufbau tatsächlich fairer Handelsbeziehungen hätten beide Seiten gewonnen – auch wenn die reichen Geberländer erst einmal Verluste hinnehmen müssten: die Märkte müssten für afrikanische Produkte geöffnet werden. Den Afrikaner müsste Selbstbestimmung über die Produktion von Endprodukten gewährt werden, statt sie weiter als Rohstoff- und Arbeitskräftelieferanten und Abnehmer für chinesische Billigwaren zu missbrauchen. Europäer müssten ihre unsäglich ungerechte Agrarsubventionierung aufgeben. Die Afrikaner müssten eigenverantwortlich Projekte für die Entwicklung antreiben. Die Gelder dafür zu kontrollieren ist gerechtfertigt, überbordende Bürokratie, die mehr behindert als vorantreibt aber nicht. An Verhandlungstischen sollte man beim Einsatz von Entwicklungsgütern und –geldern vermehrt auf die aufstrebenden, gut ausgebildeten, intelligenten jungen Afrikaner hören, die ihr Land und ihre Leute besser kennen. Jedes Volk hat seine Wurzeln, seine Traditionen und Werte: eine geistige Heimat. Es gibt nicht nur die europäische, amerikanische, asiatische Sicht auf die Welt. Das hat durchaus seinen Reiz und auch seine Vorteile. Partnerschaftlich kann man aber nur miteinander verhandeln, wenn man die Unterschiede seines Gegenübers wahrnimmt und zwar nicht gönnerhaft oder belächelnd, im Wissen, dass man es selber doch besser weiß.

Afrika nicht mehr als Selbstbedienungsladen zu verstehen, dürfte ein Projekt für die nächsten Jahrzehnte werden – wenn es denn irgendwann einmal angeschoben werden sollte. Und selbst dann müssten alle Bemühungen bei einem Krisenherd wie Somalia im Sande verlaufen bis endlich Frieden herrscht. Der Westen hätte diesen Zustand durch rigorose Rüstungsgesetze und Waffenkontrollen zumindest entgegen kommen können. Noch eine weitere Katastrophe in Afrika mit Ankündigung.