Montag, 28. März 2011

Die Welt wird kleiner

von Tanja A. Wilken

Zahlen sind nur ein Versuch, den Irrsinn zu fassen. Ein Erdbeben der Stärke 9 erschüttert am 11. März 2011 Japan. Es folgt eine zehn Meter hohe Tsunamiwelle, die die Ostküste überrollt. Dabei havariert das Atomkraftwerk Fukushima. Nur wenige Stunden nach dem Beben fällt im AKW Fukushima I im ersten Reaktor die Kühlung aus. In den folgenden Tagen kommt es dort zu mehreren Explosionen. Mindestens vier von sechs Reaktoren in Fukushima I meldeten Probleme. Durch Wasserstoffexplosionen werden die Außengebäude dreier Reaktoren stark beschädigt. Die ursächliche Naturkatastrophe forderte bisher nach offiziellen Angaben mehr als 10. 000 Tote und über 17. 000 Vermisste, Tendenz steigend. Rund eine halbe Million Menschen drängen sich in Notunterkünften, die zum Teil keinen Strom mehr haben.
Verpflegung wird knapp. Ganze Landstriche und Küstenstädte sind verwüstet. Menschen irren zwischen den Trümmern ihres früheren Zuhauses umher. Sie klauben aus Schrott und Steinen Bruchstücke ihrer Besitztümer zusammen und suchen nach ihren Angehörigen. Man sieht die Bilder und fragt sich, ob die Japaner ein besonders stoisches oder ein besonders stures Volk sind. Bisher verließen hauptsächlich die Ausländer das Land. Die Japaner bleiben. Angesichts der unsicheren Lage und der widersprüchlichen Informationen wirken sie noch erstaunlich ruhig. Die ganz große Panik bleibt (noch) aus. Die Frage ist natürlich, wohin die Menschen überhaupt gehen könnten? Die Lage im Norden ist verheerend und doch bleiben die meisten. Der Aufbruch gen Süden, Richtung Tokio, wird erschwert durch die zerstörte Infrastruktur. Und wer noch ein Fahrzeug hat, um sich damit auf die mit Trümmern übersäten Straßen zu trauen, bekommt womöglich kein Benzin mehr. Die Menschen im äußersten Norden des Landes müssten zudem auf ihrer Fluchtroute am Zentrum der radioaktiven Gefahr vorbei. Japan ist kein Land mit großer ebener und blühender Topographie. Für die rund 127 Millionen Menschen gibt es nicht viel Raum, um auszuweichen und sich niederzulassen. Sollten ganze Gebiete dauerhaft unbewohnbar werden, wohin sollten die Menschen ziehen? Nach China, zum Nachbarn, mit dem es immer wieder Reibereien gibt, oder vielleicht nach Europa? Gehen oder bleiben?

Als im August 2005 der Hurrikan „Katrina“ die Südostküste der USA heimsuchte, flohen 1, 3 Millionen Menschen ins Landesinnere. Von den 450.000 Einwohnern der Stadt New Orleans kehrten 180.000 nicht zurück. Die Mehrheit aber wollte zurück in die alte Heimat. Sie nahmen emotionale und körperliche Belastungen sowie das Risiko in Kauf, nach dem Aufbau durch eine neuerliche Katastrophe wieder alles zu verlieren. Vermutlich klammern sich auch die meisten Japaner an die Hoffnung, ihr Zuhause nicht auf Dauer aufgeben zu müssen. Aber was, wenn es nichts mehr zu reparieren und aufzubauen gibt? Atomare Verseuchungen machen Landstriche für Jahrzehnte unbewohnbar und bedrohen Wald, Boden, Trinkwasser und andere Ressourcen auf Lebenszeit; so wie die Geisterstadt Prypjat, die im Zuge des Reaktorunfalls von Tschernobyl 1986 komplett geräumt wurde. Noch 25 Jahre später bewachen Soldaten die „Todeszone“, um zu verhindern, dass sich Menschen dort nieder lassen. Was die Ärmsten der Armen und die Illegalen nicht daran hindert, es trotzdem zu tun.

Neben diesen plötzlich hereinbrechenden Katastrophen sind schleichende Veränderungen der Umwelt und des Klimas eine wachsende Bedrohung der Lebensräume. Die Ausbeutung und Zerstörung von Nutzflächen, der steigende Mangel an Trinkwasser, globale Umweltkatastrophen und -verschmutzungen, der Anstieg des Meeresspiegels, die Ausbreitung der Wüsten – all dies sind Ursachen, die in den kommenden Jahrzehnten immer mehr Menschen die Existenzgrundlage entziehen werden. Bietet der gewohnte Lebensraum aber keine Ressourcen mehr, sind die Menschen gezwungen, weiter zu ziehen. In Indien beispielsweise kommt es regelmäßig zu temporärer Migration, da Millionen von Menschen aufgrund von Naturkatastrophen gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen. Die Abwanderung ist eine Überlebensstrategie, ein Fluchtinstinkt, der alte Wurzeln hat. Ist kein Boden da, der bestellt werden kann oder kein lebensnotwendiges Wasser oder verliere ich alles durch Überschwemmungen, bin ich gezwungen, in einen neuen Lebensraum umzusiedeln.

Allein: dies ist nicht so einfach. Gehen wir davon aus, dass auf lange Sicht tatsächlich immer mehr Ackerland, Küstenstriche und Bodenschätze verloren gehen und die Menschen näher zusammenrücken müssen, kann man davon ausgehen, dass es zu Konflikten kommen wird. Sicherlich schockieren uns die Bilder von Menschen auf der Flucht vor Nuklear- und Naturkatastrophen. Sie haben unser Mitgefühl. Aus der Ferne. Es wäre naiv zu glauben, dass die Solidarität angesichts zunehmenden Mangels keine Risse bekommen wird. Umweltmigranten, selbst wenn sie innerhalb ihres eigenen Landes umsiedeln, stehen früher oder später den Problemen aller Zuwanderer gegenüber. Sie sind Fremde, die sich zum Teil durch ethnische und religiöse Hintergründe von den anderen unterscheiden. Soziale Konflikte sind vorprogrammiert. Um das Beispiel Indien aufzugreifen: Hier geraten regelmäßig die muslimischen Migranten aus Bangladesch in Konflikt mit den hinduistischen Einwohnern Indiens. Um wie viel stärker werden Ressentiments und Feindseligkeiten ausfallen, wenn der Tisch immer weniger reich gedeckt ist? Wenn immer mehr Menschen sich immer weniger Nahrung, Wasser und Boden teilen müssen?

Verstärkt wird das Problem dadurch, dass Umweltmigration in der internationalen Politik bisher kaum wahrgenommen wird. Das ist erstaunlich, bedenkt man, dass die UN bereits bis zum Jahr 2010 die Zahl der Umweltflüchtlinge auf 50 Millionen schätzte. Wie viele es bis heute tatsächlich sind, weiß niemand so genau.
Bisher weigern sich die Vereinten Nationen, diesen Abwanderern überhaupt den Status „Flüchtling“ zu verleihen. Artikel 1 der Genfer Konvention versteht unter „Flüchtling“ eine Person, die aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder aufgrund ihrer politischen Überzeugungen in ihrem Heimatland verfolgt wird. Um den Status politischer Flüchtlinge nicht zu gefährden, wird der Begriff des „Umweltflüchtlings“ tunlichst vermieden. Es wird strikt getrennt nach „Flüchtling“ und „Migrant“. Ein Migrant verlasse seine Heimat freiwillig, um sich anderswo ein besseres Leben aufzubauen. Ein Flüchtling hingegen fliehe gezwungenermaßen vor Verfolgung und kann auch nicht ohne weiteres in seine Heimat zurück. Müsste aber die wirtschaftliche Not, die unweigerlich aus der Zerstörung der Umwelt erwächst, nicht auch als „erzwungene Flucht“ definiert werden? Und wohin sollten Menschen zurückkehren, wenn ihr Land bis zur Verödung ausgebeutet oder sämtlicher Boden verseucht ist?

Ohne Anerkennung des Flüchtlingsstatus fehlt ein überstaatliches Rechts- und Druckmittel – besonders problematisch ist dies hinsichtlich des Umgangs mit Umweltmigranten. Wer sollte sich verantwortlich fühlen, sie in seinem Land angemessen aufzunehmen? „Wer soll wen wie schützen?“, ist eine Frage, die nicht geklärt ist. Und Europa? Würden wir ohne weiteres Menschen aufnehmen? Oder würde die Abschottungsmethode zum Einsatz kommen und die Grenzen dicht gemacht werden? Würden wir Menschen vor unserer eigenen Haustür verhungern lassen?

Auf lange Sicht wird unsere Welt kleiner werden, die Ausweichmöglichkeiten überschaubarer. Es besteht aber bereits jetzt die Notwendigkeit, sich geeignete Strategien zu überlegen. Damit sind nicht nur ausgeklügelte Frühwarnsysteme und Evakuierungspläne gemeint, um sich für den Fall der Fälle zu rüsten. Um für den schleichenden Wandel unserer Welt gewappnet zu sein – zumindest besser als wir es bisher sind – müsste auch die internationale Flüchtlingspolitik auf den Prüfstand. Die Aufgabe verlangt die Aufmerksamkeit aller. Sonst könnte später nur das Recht des Stärkeren zählen. Und in diesem Punkt sollten wir nicht auf unsere technische Überlegenheit setzen. Eine nukleare Bedrohung ist in unserem Land so wenig ausgeschlossen, wie bei unseren unmittelbaren Nachbarn. Taifune und Erdbeben stellen dabei zwar für uns ein geringeres Risiko dar wie für die Japaner. Aber der Begriff „Restrisiko“ dürfte sich seit dem 11. März als Euphemismus für eine lebensgefährliche Bedrohung enttarnt haben. Und sollte es tatsächlich bei uns zu einem Super-Gau kommen, müssten wir darauf hoffen, dass uns keiner die Tür vor der Nase zuschlägt.

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