Dienstag, 24. Mai 2011

Europa macht dicht....

von Tanja A. Wilken

Irgendwas geht um im Alten Europa. In der Schweiz wehrt sich das Volk gegen den Bau eines Minaretts, in Ungarn „patrouillieren“ Herrschaften in eigentümlichen Uniformen durch Roma-Siedlungen, Dänemark will seine Grenzen dichtmachen und ganz Europa betreibt unterlassene Hilfeleistung. Frankreichs Chef Sarkozy und Italiens Berlusconi fordern eine Verschärfung des Schengen-Abkommens und im Dienste der Sicherheit pflichtet ihnen unser Herr Friedrichs eifrig bei. Parteien mit so klangvollen Namen wie die „Wahren Finnen“, die „Dänische Volkspartei“ oder „Front National“ (Frankreich) machen sich auf, „ihre“ Länder sicherer und besser zu machen. Gutes Recht, nicht wahr? Irgendwas ist faul im Staate Dänemark. Und im Staate Frankreich. Im Staate Deutschland. Im Staate…

Dabei hatte alles einmal so gut angefangen! Frei sollte Europa sein. Stark und unabhängig. Nicht nur wirtschaftlich, auch politisch. Stolz waren wir auf unsere Kultur. Auf die historische Entwicklung. Auf Aufklärung und Demokratie. Weltoffen, tolerant, emanzipiert. Das ist Europa! Ein Zusammenschluss war nur folgerichtig. Ebenso wie offene Grenzen. Das Schengen-Abkommen von 1985 beschloss die Verteidigungsgrenzen Europas nach außen. Innere Grenzen sollte es nicht mehr geben. Es war so denn auch ein symbolischer Akt, dass sich die Mitgliedsstaaten füreinander und untereinander öffneten. Die Mobilitätsfreiheit wurde ein Grundrecht des europäischen Bürgers. Ein Zeichen der Gemeinschaft und des Vertrauens (wobei man nicht vergessen sollte, dass dieses Privileg ausgewählten Kandidaten trotz EU-Mitgliedschaft gern vorenthalten wurde. Nur ein Schelm wer böses dabei denkt, dass diese Exklusivität hauptsächlich die östlichen EU-Länder betraf). Europa sollte im besten Sinne eine „offene Gesellschaft“ sein. Zusammenhalt im Inneren, Stärke nach außen. Ein Vorbild und eine Marke für die weltpolitische Bühne.

Leider schickt sich diese Mustergesellschaft nun an, sich in eine geschlossene zu verwandeln. Und dies unter dem Deckmantel eines leicht diffusen Sicherheitsbedürfnisses. Wieso diffus? Muss sich eine Gesellschaft ihrer Feinde nicht erwehren dürfen? Sicherlich. Aber wie definiert Europa derzeit seine Feinde? Als Bootsflüchtlinge und polnische Putzfrauen. Vor letzteren fürchtete man sich, seit im letzten Jahr verkündet wurde, dass das Arbeitnehmer-freizügigkeitsgesetz in Kraft treten würde. Busseweise werden nun Billiglöhner ins Land kommen!
Nun, wir haben vielleicht genug Putzpersonal, aber ein paar zusätzliche Altenpflegekräfte würden uns sicher nicht schaden. Und die Sache mit dem Lohndumping wäre etwas, was die Politik mit genügend Anstrengung und Konzentration wohl regeln könnte…
Was die schätzungsweise etwa 34.000 Menschen betrifft, die seit Ausbruch der Kämpfe bei der Flucht aus Nordafrika in Europa landeten (davon über 25.000 in Italien): Hier muss ein wenig Zahlenspielerei erlaubt sein, um die Hysterie, die von europäischen Innenministern und Staatsoberhäuptern betrieben wird, in die richtigen Dimensionen zu lenken. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) geht von etwa 600.000 Flüchtlingen aus Nordafrika aus. Von denen kamen die meisten in den angrenzenden Ländern, wie Ägypten und Tunesien, unter. Länder, die derzeit unruhige Zeiten durchleben. Deren Behörden und besonders Bewohner sich um die Versorgung der Menschen kümmern. Kleine Dörfer nehmen bis zu 20.000 Menschen auf – ohne verzweifelt die Hände gen Himmel zu recken, wie sie denn dieser „biblischen Plage“ Herr werden können. Nur ganze 2% der Menschen aus Libyen sind in Europa aufgenommen worden! Wir reden hier von 27 Staaten und 501 Millionen Menschen. Und wir schaffen es nicht, ein paar Zehntausend Hilfesuchenden vorübergehend eine menschenwürdige Unterbringung zu bieten?

Es sind all diese Widersprüche und Ungereimtheiten, mit denen Europa operiert – und sein eigenes Bild demontiert. Wir beklagen den Fachkräftemangel, die schwachen Geburtenjahrgänge – und schließen unsere Grenzen oder melden von vornherein an, wen wir denn nun alles nicht haben wollen. Dabei bemerken wir nicht, dass schon viele uns nicht mehr haben wollen und gehen, noch ehe die Tinte auf der Diplom-Urkunde getrocknet ist. Oder was ist mit Intellektuellen, wie dem Islamkenner und –kritiker Bassam Tibi, der nach 44 Jahren in Deutschland, und etlichen davon an einer deutschen Universität, verkündete, dass er sich nie heimisch fühlte – weder im wissenschaftlichen noch im privaten Raum? Obwohl wir um unsere Schwierigkeiten beim Verstehen des Islams wissen, obwohl wir im Widerstand gegen Fundamentalisten Kenner brauchen, vergraulen wir diese aus Europa. Dieser Un-Zustand wird auch nicht dadurch verbessert, dass momentan fleißig über Migranten-Quoten in Parteien nachgedacht und immer mal wieder ein „Vorzeige-Muslim“ präsentiert wird. Dies dient weniger der Anerkennung von Muslimen als öffentlich-wirksamen Personen, als vielmehr der Selbstbeweihräucherung der Parteien: „Seht her! Wir sind gute Menschen!“ Ja, sind wir das nicht?
Wir sind moralisch, verfassungstreu, trennen unseren Müll und sind gegen AKWs. Sobald irgendwo auf der Welt wieder die Erde wackelt, schicken wir Geld. Zusätzlich zum jährlichen Weihnachtsspendenmarathon. Ganz ungefragt. Wir sind so vom Geist der Aufklärung und unseren Wertvorstellungen erfüllt, dass einem ganz warm ums Herz werden kann. Wird einem aber nicht…

Die Betonung moralischer Werte und Ideen muss einem suspekt vorkommen, sobald diese zu einer letztgültigen Anweisung werden. Nehmen wir die Beschwörung deutscher Leitkultur, besser: die Zugehörigkeit zu einer christlich-abendländischen Wertekultur. Es war eben jener Bassam Tibi, der die Leitkultur aufs Tapet brachte. Er sprach von einer „europäischen Leitkultur“, die sich angesichts des bestehenden Kulturpluralismus für eine neue europäische Identität aussprach. Natürlich müssten die Eingewanderten die jeweilige Rechtsordnung anerkennen. Aber bei der Frage, wie Integration erfolgreich gelingen kann, geht es um mehr als um Verfassungspatriotismus. Integration braucht Identität – Identität mit der neuen Gesellschaft und Kultur. Und um Identität zu erlangen, bedarf es einen Grundkonsens gemeinschaftlicher und allgemein anerkannter Werte – eben einer Leitkultur. Unter der europäischen Leitkultur verstand er eben dieses Erbe der Aufklärung, der Toleranz, des gegenseitigen Respekts. Er wollte keine Parallelgesellschaften und keinen wertebeliebigen Multikulturalismus. Religion ist Privatsache – und das soll sie auch bleiben. Im öffentlichen Raum hat sie nichts zu suchen. Und diesen Fehler begingen CDU / CSU, als sie die Leitkultur für sich entdeckten. Sie boten keine Identitätsfindung, sondern sortierten aus. Kein Migrant, wie verwurzelt er in diesem Land sein mag, egal wie lange er seinen Pass bereits hat, egal welche Anstrengungen er auch unternimmt, kann sich unter der Decke der „christlich-jüdisch-abendländischen-Tradition“ wiederfinden.

Was augenblicklich in Europa passiert, die äußere und innere Abschottung, trägt die Handschrift der Furcht vor dem Verlust der kulturellen und nationalen Identität. Wir haben Angst und machen dicht. Auf lange Sicht werden wir dafür bezahlen. Populismus schadet unserer Wirtschaft, unserer Gesellschaft, unserer Kultur. Keine Nation gedeiht ohne Einfluss. Eine offene Gesellschaft hat das Recht, sich vor ihren Feinden zu schützen. Die wahren Feinde sind Indoktrination, Verallgemeinerung, Kritikfeindlichkeit, Abkehr vom Pluralismus der Ideen. Diese Gefahren gehen nicht allein vom Islamismus aus. Sie zeigen sich durch rechtspopulistische Stimmungsmacher, schwache politische Führungen, Vorurteile und Borniertheiten.
Es ist was faul, im Staate Europa.

Mittwoch, 11. Mai 2011

Kopfschuss im Namen der Gerechtigkeit...

von Tanja A. Wilken

„Der Gerechtigkeit wurde Genüge getan“, sagte Barack Obama über die Tötung Osama Bin Ladens durch ein US-Spezialkommando am 2.Mai 2011. Israel gratulierte zu einem „historischen Tag“ und das amerikanische Volk spricht über „eine böse Kraft, die endlich weg ist“ und äußert die Hoffnung, ihr Staatsfeind Nr.1 möge nun „in der Hölle schmoren!“ Herrje, da ist sie wieder: die religiöse Phrasendrescherei, mit der schon G.W. Bush seinen Kreuzzug gegen die „Achse des Bösen“ eröffnete. Aber bleiben wir bei der „Gerechtigkeit“, die es ja nun einmal nicht nur im biblisch-alttestamentarischen, sondern auch im rechtsstaatlichen Sinne gibt. Darf ein Rechtsstaat gezielt töten?

Leider ist diese Frage nicht einfach zu beantworten. Das Völkerrecht gibt keine klare Antwort, eher läuft sie einer seit Jahrzehnten gängigen Praxis international operierender Staaten hinterher: das „targeted killing“ ist rechtlich und ethisch umstritten, aber geduldet. Ob es sich mit dem Völkerrecht deckt, hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab: Zum einen geht es darum, ob die Tötung auf eigenem oder fremden Boden geschieht und ob im Fall eines Eingriffs in einem anderen Land dessen staatliche Souveränität gewahrt wird. Pakistan schweigt bisher beharrlich dazu. Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass die Amerikaner ohne Wissen und eventuell auch Mithilfe des gut arbeitenden pakistanischen Geheimdienstes die Mission durchführten. Pakistans bisherige Beteuerungen, völlig ahnungslos gewesen zu sein, dürften eher dem Schutz vor eventuellen Repressalien dienen als der Wahrheit entsprechen. 

Der zweite Punkt betrifft die Zielperson selbst. Laut dem wenig konkret formulierten Kriegsvölkerrecht ist die Tötung eines Anführers oder Teilnehmers eines bewaffneten internationalen Konflikts zulässig. Immer vorausgesetzt, der Betroffene ist nachweislich an diesen Feindseligkeiten beteiligt. Nun meinen einige, Bin Laden habe nicht gekämpft, jedenfalls nicht zum Zeitpunkt seines Todes. Dann muss man allerdings fragen, ob jemand, der Befehle zur Ausübung von Terroranschlägen gibt, als Zivilist völkerrechtlich nicht belangt werden kann. Anders formuliert: Wird ein sich klar bekennender Terrorist und Anstifter zum Mord an Unschuldigen während der Nachtruhe oder Mittagspause zum Zivilisten, den man nicht ausschalten darf? 2009 gab ein Internationales Komitee des Roten Kreuzes ein Gutachten heraus, das diese Frage damit beantwortete, dass sich Personen wie Bin Laden durchaus zu legitimen militärischen Zielen machen – im Gegensatz beispielsweise zu bloßen Mitläufern. Bin Laden machte keine Pause vom Terroristen-Dasein. Und auch eine strafrechtlich relevante Unschuldsvermutung dürfte in seinem Fall kaum gegeben gewesen sein.

Wenn es sich auch nun nicht eindeutig klären lässt, ob die Amerikaner völkerrechtskonform oder nicht agiert haben, so steht die Frage, ob es sich bei der Aktion um eine angemessene, einem Rechtsstaat würdige Reaktion handelte, auf einem anderen Blatt. Demnach hätte man Bin Laden festnehmen und dem Internationalen Gerichtshof überantworten müssen. Aber hätten die Amerikaner ihren erklärten größten Feind tatsächlich einem Gericht (noch dazu einem nicht-amerikanischen!) übergeben und damit den Dingen ihren Lauf gelassen? Bin Laden war nicht Milošević – ein Blick in die Medien genügt, um zu sehen: dies war nach amerikanischem Selbstverständnis eine nationale Angelegenheit – „etwas Persönliches“. Kein Gerichtsverfahren der Welt hätte dem Genüge getan. Und so landet man wieder bei dem alten Rachebegriff des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, und einer Dimension der Begriffe „Recht“ und „Gerechtigkeit“, die über die völkerrechtliche hinausreicht. Nach Bushs Aufruf zum „war on terror“ pervertierten die eingesetzten Mittel des Antiterrorkampfes den Gerechtigkeitsanspruch. Recht wurde zur Vergeltung. Westliche Ethik verkam durch Foltermethoden wie das Waterboarding, durch die Verschleppung Terrorverdächtiger, Inhaftierung ohne Haftprüfung und Guantanamo zur Demagogie. Diese „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wurden nicht von einem Tyrannenstaat, sondern von einem demokratischen, sich als hoch zivilisiert betrachtenden Staat verübt. Damit wir uns nicht missverstehen: eine Demokratie muss sich ihrer Feinde erwehren dürfen. 

Bin Laden tötete ohne Skrupel Tausende „Ungläubige“ und opferte seine eigenen Religionsbrüder für den „Heiligen Krieg“. Al-Qaidas Terrorismus zielt auf die Beseitigung von Menschen, deren nationale, religiöse und kulturelle Existenz grundsätzlich abgewertet und abgelehnt wird. „In Ruhe über alles zu reden“ ist ein frommer Wunsch, der die Kluft zwischen diesen Fronten – westlicher Welt und fundamentalistischer Ideologie – nicht überbrücken wird. Wir wollen unsere Freiheit und Sicherheit verteidigen. Das ist unser Recht. Aber es sind gleichwohl die Regeln, die wir uns selbst auferlegen, die unsere Mittel hierzu letztlich gerechtfertigt erscheinen lassen. Gibt sich eine Nation selbst das Etikett des Rechts und der Moral, entscheiden die Taten über den Wert der Worte. Mehr noch: sie entscheiden über den Wert unserer Werte. Auch bei deren Verteidigung sollten wir uns dessen bewusst sein, damit wir weder unseren rechtlichen noch unseren moralischen Anspruch verlieren.

Dienstag, 26. April 2011

Eine europäische Farce...



von Tanja A. Wilken

Vorbei die Zeiten, in denen sich darüber Europa einig war, wie man sich der Flüchtlinge Nordafrikas erwehrt. 2005 freuten sich die europäischen Innenminister noch, dass man Libyen als EU-Vorposten gewinnen konnte. Für Waffen, allerhand technisches und militärisches Gerät und vor allem für viel viel Geld, erklärte sich der geläuterte und überhaupt nicht mehr böse Muammar al-Gaddafi bereit, Menschen auf der Flucht vor Verfolgung, bewaffneten Konflikten und Hunger abzufangen. Die EU-Kommission wurde nicht müde, den Kritikern (hauptsächlich ewig quer schießenden Menschenrechtsorganisationen) die hehren humanitären Motive dieser Partnerschaft näher zu bringen: die armen Menschen sollten schließlich vor dem Ertrinken bewahrt und vor halsabschneiderischen Menschenhändlern geschützt werden. „Europa zeigt Solidarität mit den Verzweifelten!“, so der Tenor. Oder anders formuliert: „Lieber ein paar Millionen in die Abwehr vor Ort investiert, als sich mit den Kosten für die Rückflüge vom europäischen Eiland herumplagen!“.

Gut sechs Jahre später ist al-Gaddafi zu sehr damit beschäftigt, mit gekauften Söldnern und Geschenken der EU die eigene Bevölkerung zu bombardieren. Keine Zeit mehr also, um Illegale abzufangen. Er ließ es sich aber nicht nehmen, die hämische Drohung gen Europas Führung zu senden, nun werde man mit Flüchtlingen überschwemmt. Ausgerechnet ein irrer Diktator stellt Notleidende als Terroristen dar. Und Europas Reaktion? Die Innenminister bezeichnen sich in den Plenarien gegenseitig als untätige Ignoranten oder überforderte Jammerlappen. „Die Flüchtlinge sind ein italienisches Problem!“ – „Nein, ein europäisches!“ – „Nein!“ – „Doch!“ Aufgeführt wird eine europäische Tragikomödie.

Seit Januar sind um die 26 000, überwiegend tunesische, Flüchtlinge auf Lampedusa eingetroffen. Sie bezahlen Schleppern eine Menge Geld, um zusammengepfercht auf unsicheren Nussschalen ins vermeintlich gelobte Land zu kommen. Sie verlassen ihre Heimat und ihre Familien, weil in ihrem Land nichts mehr geht. Die Wirtschaft ist komplett zusammengebrochen. Viele Gastarbeiter sind aufgrund des Bürgerkriegs aus Libyen zurückgekehrt. Es gibt keine Arbeit für alle. Vor allem junge Männer machen sich auf den Weg, um zumindest kurzfristig Beschäftigung in Europa zu finden. Sie kehren nicht ihrem Land den Rücken, um sich vor dem Wiederaufbau zu drücken (wie manche deutsche Politiker und Bestsellerautoren unterstellen), sondern weil sie ihrer Familie nicht auf der Tasche liegen wollen. Das entspricht kaum dem Bild des arbeitsunwilligen Schmarotzers, das nun von Berlin, Paris und Rom bis nach Brüssel gemalt wird. Man wird es nicht leid zu betonen, dass es sich um „illegale Wirtschaftsflüchtlinge“ und nicht um politisch Verfolgte handelt, die das Recht auf Asyl haben.

Das Problem liegt aber nicht in der Differenz zwischen „guten/legalen“ und „schlechten/illegalen“ Einwanderern, sondern in der europäischen Einwanderungspolitik per se. Sie ist, so wie die „Vorposten“ zur Grenzkontrolle in Libyen eine Methode des Ignorierens und Umschichtens des Problems. Erst versuchte man, die Flüchtenden am ausgestreckten Arm von sich fernzuhalten, jetzt beginnt das Lamentieren über Zuständigkeiten, die aber, „bitte schön, nicht unsere sind!“ Warum nicht? Mit Verordnungen wie Dublin II und der Drittstaatenregel haben Länder wie Deutschland und Frankreich die Verantwortung an die Randstaaten Europas abgewälzt. Praktischerweise haben Flüchtlinge kein Geld für Flugtickets und Italien und Spanien sind näher an den Ausgangsländern. Voila! Die Boat People stranden auf einer 4500 Einwohner starken Mittelmeerinsel. Die ganze Asyl- und Flüchtlingsmisere ist die praktische Anschauung der Redensart „Wer am längeren Hebel sitzt“: die Hauptlastenträger sind die kleineren, wirtschaftlich und außenpolitisch unbedeutenden Staaten, die sich zudem auch noch in größerer finanzieller Abhängigkeit zum Mutterschiff Europäische Union befinden.

Die Europa-Lösung „Abschottung“ ist, sollte sie das überhaupt je gewesen sein, kein Konzept mehr, das zukunftstauglich ist. Angesichts der demographischen Entwicklung, des steigenden Fachkräftemangels und der stetigen Abwanderung aus unserem Land, bräuchten wir dringend Instrumente für eine zielgerichtete und gesteuerte Einwanderungspolitik. Stattdessen kommen aus den heimischen politischen Lagern Geistesblitze, wie die Grenzen Bayerns verstärkt zu kontrollieren oder auch die deutsche Marine aufzustocken, um die Grenzen im Süden „zu schützen“. Was sollen die deutschen Soldaten tun? Mit Kanonen auf Ertrinkende schießen? All diese Debatten um Sicherheit, Aufnahmekapazitäten und Verantwortlichkeiten blenden das Wesentliche aus: da draußen überqueren Menschen das Meer, die selbständig für ihre Rechte, für Freiheit und Menschenwürde kämpften. Was ist nun unsere „europäische Solidarität“? Despoten Geld in den Rachen schmeißen oder wirtschaftliche Aufbauprogramme fördern? Mittel für Grenzposten aufstocken oder für menschenwürdige Unterbringungen sorgen?

Objektiv betrachtet ist die Einwanderungspolitik tatsächlich ein gesamteuropäisches Anliegen. Aber das Geschrei ist groß. Rings um uns haben die Rechtspopulisten einen Lauf. Mit dem Droh-Bild vom habgierigen Fremden lassen sich Wähler fangen. Und außerdem war das ja nicht unsere Revolution! Warum nicht die Grenzen dicht machen? Warum dieses ewige Gerede um Menschenrechte, wo sich doch eh jeder selbst der nächste ist? Schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe, indem wir weiter eine Handelspolitik betreiben, die uns fetter und reicher macht und bekämpfen wir so zugleich die steigende Überbevölkerung durch Ausbeutung und Aushungern! Und wenn die Menschen sich dann erdreisten, sich auf den Weg zu uns zu machen, rüsten wir unsere Truppen auf und überlassen dem bayrischen Innenministerium die Kontrolle unserer Grenzen. Ein traumhaft utopisches Europa!

Dienstag, 12. April 2011

Gemüter mit Worten füttern...



von Tanja A. Wilken





Dem Sarrazin-belesenen, von Assimilations- und Extinktionsängsten gebeutelten deutschen Bürgertum muss bei der Antrittsrede des neuen Innenministers Hans-Peter Friedrich das Herz aufgegangen sein: „…dass der Islam zu Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich auch aus der Historie nirgends belegen lässt“, so ließ er darin verlauten. Die Wählerschaft beruhigt, den Seehofer glücklich gemacht. Dumm nur, wenn ein solches Zitat als „Motto“ zur Eröffnung der Deutschen Islamkonferenz, dessen Gastgeber nun einmal der Innenminister ist, die Runde macht. Die Förderung eines Dialoges steht ja bekanntermaßen unter einem schlechten Stern, wenn zuallererst einmal die Abgrenzung zum Gesprächspartner betont wird. Schwierig, schwierig.

Es ist nun wirklich müßig bereits schon wieder die Frage zu erörtern, ob und wie stark der Islam Einfluss auf die deutsche oder auch europäische Kultur genommen hat. Historische Tatsache ist, dass die arabische, sprich muslimische, Welt sich einmal über weite Teile des heutigen Europas erstreckte. Und dies brachte einiges an Einflussnahme mit sich, was sich u.a. in der Medizin, der Mathematik und in den Geisteswissenschaften niederschlug. Was mich am Verweis auf die „christlichen Wurzeln“ unseres modernen Staates samt Moral- und Wertevorstellungen besonders stört, ist, dass der Sprung in die moderne Gesellschaft ja doch hauptsächlich der Aufklärung des 18.Jahrhunderts zu verdanken ist. Es war gerade die Säkularisierung, die Trennung von Kirche und Staat, die Förderung der Toleranz (auch in Religionsfragen), die Abkehr von Herkunfts- und Standesdünkel, welche langsam den Weg in unsere modernen Gesellschaften ebnete. Religiöse, philosophische, kulturelle und ethnische Fremdimpulse hatten immensen Einfluss auf diese Entwicklung. Natürlich spielten der christliche Glaube und das Kirchenrecht eine Rolle für unseren Rechts- und Wertekanon. Aber es gibt nicht den einen Faktor, der alles ins Rollen brachte.

2006 rief der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble die Deutsche Islamkonferenz ins Leben. Ein Dialog auf Augenhöhe – das war die Idee; die Schaffung eines engen Austausches zwischen dem Staat und Vertretern der muslimischen Gemeinschaften. Selbstverständlich war auch das Thema „Sicherheit“ ein gewichtiger Grund für Schäuble das Gespräch zu suchen. Die Anerkennung der Menschenrechte sowie der Werte- und Rechtsordnung der BRD sollte von allen in Deutschland lebenden Einzelpersonen und Gruppierungen respektiert und gelebt werden. Allerdings verstand er es recht gut seine Forderungen als Minister für Inneres und seine Vorstellung als Initiator der Islamkonferenz unter einen Hut zu bringen: „Muslime sind Teil unseres Lebens, gehören zu unserem Volk, gehören zu unserem Land, sie sind erwünscht, sie sind akzeptiert, aber sie halten sich auch an die Regeln. Das heißt, das ist ein Prozess der Gegenseitigkeit.“ Es schien angebracht, die Muslime gesondert an einen runden Tisch zu bringen. Ihre Integration schien zunehmend ins Stocken zu geraten. Und die Ressentiments gegen den islamischen Glauben waren spürbar gewachsen.

Es gab eine Zeit, in der das „Islam-Problem“ längst nicht so präsent war wie heute. Mit dem Anschlag vom 11. September 2001 und George W. Bushs „Kampf gegen den Terror“ (wofür er ebenfalls gern das Schlagwort „christlich“ bemühte) begann eine zunehmend verengte Wahrnehmung auf die Muslime. Hinzu kam, dass die Deutschen langsam einsehen mussten, dass die irrige Vergewisserung Kohls, Deutschland sei kein Einwanderungsland, nichts anderes als das war: irrig. Mit der mittlerweile dritten Generation der Gastarbeiter vor Augen können wir feststellen, dass die ehemaligen Arbeitskräfte, nachdem sie malochten, unser Bruttosozialprodukt anhoben und Abgaben zahlten die Frechheit besaßen zu bleiben – und zu leben! Sie heirateten, zogen ihre Kinder auf und betrachteten dieses Land als ihre Heimat. Das Fremdsein aber blieb. Und wir bekamen ein gewichtiges Problem hinzu: die Ghettoisierung. Die Bildung von Parallelgesellschaften, in denen man lieber unter sich bleibt als am gesamtkulturellen, auch politischen Leben teilzunehmen. Dazu der Generalverdacht des Islamismus und die „Deutschland schafft sich ab – und die Türken sind schuld“- Hysterie. Inwieweit tragen wir aber alle gemeinsam – Deutsche wie Migranten – Verantwortung für diese Entwicklungen? Wäre die Klärung der Ursachen und die Suche nach Lösungen nicht wichtiger als das Beharren auf Unterschieden und Abgrenzung und das Schüren von Feindbildern und Ängsten?

Studien belegen mittlerweile, dass das Ansehen von Muslimen in Deutschland wesentlicher schlechter ist als in europäischen Nachbarländern. Interessanterweise liegt dies ausgerechnet daran, dass wir zu wenig Kontakt mit dem Islam haben. Wir wissen zu wenig voneinander, um Vorurteile abbauen zu können. Um dies in die Wege zu leiten, wäre ein offener und öffentlicher Diskurs vonnöten. Das Problem ist nur, dass inzwischen jeder Versuch in Polemik und gegenseitige Verdächtigungen („Integrationsverweigerer“ – „Fremdenhasser“) zu münden scheint. Dieses leidige und scheinheilige „Man wird doch noch mal sagen dürfen…“ steht dabei mittlerweile auf einer Stufe mit der Floskel, „Ich hab nichts gegen Ausländer…“. In 9 von 10 Fällen macht das folgende „aber“ die Einleitung dann aber obsolet. Konflikte müssen benannt werden, ja. Und weder Hardliner noch Verfechter der Political Correctness, noch naive Idealisten bringen uns dabei weiter.

Indem Friedrichs den Daseinszweck der Islamkonferenz auf die Sicherheitspartnerschaft reduzierte, spielte er die „Angst-Karte“ aus und will sich als Verfechter einer „Law-and-Order“-Politik profilieren. Mit seinen Äußerungen macht sich Friedrich verdächtig am Dialog kein Interesse zu haben und auch auf die Mitwirkung der Muslime, ihren Teil zum „größeren Ganzen“ beizutragen, verzichten zu können. Wenn er sich da mal nicht irrt…

Montag, 28. März 2011

Die Welt wird kleiner

von Tanja A. Wilken

Zahlen sind nur ein Versuch, den Irrsinn zu fassen. Ein Erdbeben der Stärke 9 erschüttert am 11. März 2011 Japan. Es folgt eine zehn Meter hohe Tsunamiwelle, die die Ostküste überrollt. Dabei havariert das Atomkraftwerk Fukushima. Nur wenige Stunden nach dem Beben fällt im AKW Fukushima I im ersten Reaktor die Kühlung aus. In den folgenden Tagen kommt es dort zu mehreren Explosionen. Mindestens vier von sechs Reaktoren in Fukushima I meldeten Probleme. Durch Wasserstoffexplosionen werden die Außengebäude dreier Reaktoren stark beschädigt. Die ursächliche Naturkatastrophe forderte bisher nach offiziellen Angaben mehr als 10. 000 Tote und über 17. 000 Vermisste, Tendenz steigend. Rund eine halbe Million Menschen drängen sich in Notunterkünften, die zum Teil keinen Strom mehr haben.
Verpflegung wird knapp. Ganze Landstriche und Küstenstädte sind verwüstet. Menschen irren zwischen den Trümmern ihres früheren Zuhauses umher. Sie klauben aus Schrott und Steinen Bruchstücke ihrer Besitztümer zusammen und suchen nach ihren Angehörigen. Man sieht die Bilder und fragt sich, ob die Japaner ein besonders stoisches oder ein besonders stures Volk sind. Bisher verließen hauptsächlich die Ausländer das Land. Die Japaner bleiben. Angesichts der unsicheren Lage und der widersprüchlichen Informationen wirken sie noch erstaunlich ruhig. Die ganz große Panik bleibt (noch) aus. Die Frage ist natürlich, wohin die Menschen überhaupt gehen könnten? Die Lage im Norden ist verheerend und doch bleiben die meisten. Der Aufbruch gen Süden, Richtung Tokio, wird erschwert durch die zerstörte Infrastruktur. Und wer noch ein Fahrzeug hat, um sich damit auf die mit Trümmern übersäten Straßen zu trauen, bekommt womöglich kein Benzin mehr. Die Menschen im äußersten Norden des Landes müssten zudem auf ihrer Fluchtroute am Zentrum der radioaktiven Gefahr vorbei. Japan ist kein Land mit großer ebener und blühender Topographie. Für die rund 127 Millionen Menschen gibt es nicht viel Raum, um auszuweichen und sich niederzulassen. Sollten ganze Gebiete dauerhaft unbewohnbar werden, wohin sollten die Menschen ziehen? Nach China, zum Nachbarn, mit dem es immer wieder Reibereien gibt, oder vielleicht nach Europa? Gehen oder bleiben?

Als im August 2005 der Hurrikan „Katrina“ die Südostküste der USA heimsuchte, flohen 1, 3 Millionen Menschen ins Landesinnere. Von den 450.000 Einwohnern der Stadt New Orleans kehrten 180.000 nicht zurück. Die Mehrheit aber wollte zurück in die alte Heimat. Sie nahmen emotionale und körperliche Belastungen sowie das Risiko in Kauf, nach dem Aufbau durch eine neuerliche Katastrophe wieder alles zu verlieren. Vermutlich klammern sich auch die meisten Japaner an die Hoffnung, ihr Zuhause nicht auf Dauer aufgeben zu müssen. Aber was, wenn es nichts mehr zu reparieren und aufzubauen gibt? Atomare Verseuchungen machen Landstriche für Jahrzehnte unbewohnbar und bedrohen Wald, Boden, Trinkwasser und andere Ressourcen auf Lebenszeit; so wie die Geisterstadt Prypjat, die im Zuge des Reaktorunfalls von Tschernobyl 1986 komplett geräumt wurde. Noch 25 Jahre später bewachen Soldaten die „Todeszone“, um zu verhindern, dass sich Menschen dort nieder lassen. Was die Ärmsten der Armen und die Illegalen nicht daran hindert, es trotzdem zu tun.

Neben diesen plötzlich hereinbrechenden Katastrophen sind schleichende Veränderungen der Umwelt und des Klimas eine wachsende Bedrohung der Lebensräume. Die Ausbeutung und Zerstörung von Nutzflächen, der steigende Mangel an Trinkwasser, globale Umweltkatastrophen und -verschmutzungen, der Anstieg des Meeresspiegels, die Ausbreitung der Wüsten – all dies sind Ursachen, die in den kommenden Jahrzehnten immer mehr Menschen die Existenzgrundlage entziehen werden. Bietet der gewohnte Lebensraum aber keine Ressourcen mehr, sind die Menschen gezwungen, weiter zu ziehen. In Indien beispielsweise kommt es regelmäßig zu temporärer Migration, da Millionen von Menschen aufgrund von Naturkatastrophen gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen. Die Abwanderung ist eine Überlebensstrategie, ein Fluchtinstinkt, der alte Wurzeln hat. Ist kein Boden da, der bestellt werden kann oder kein lebensnotwendiges Wasser oder verliere ich alles durch Überschwemmungen, bin ich gezwungen, in einen neuen Lebensraum umzusiedeln.

Allein: dies ist nicht so einfach. Gehen wir davon aus, dass auf lange Sicht tatsächlich immer mehr Ackerland, Küstenstriche und Bodenschätze verloren gehen und die Menschen näher zusammenrücken müssen, kann man davon ausgehen, dass es zu Konflikten kommen wird. Sicherlich schockieren uns die Bilder von Menschen auf der Flucht vor Nuklear- und Naturkatastrophen. Sie haben unser Mitgefühl. Aus der Ferne. Es wäre naiv zu glauben, dass die Solidarität angesichts zunehmenden Mangels keine Risse bekommen wird. Umweltmigranten, selbst wenn sie innerhalb ihres eigenen Landes umsiedeln, stehen früher oder später den Problemen aller Zuwanderer gegenüber. Sie sind Fremde, die sich zum Teil durch ethnische und religiöse Hintergründe von den anderen unterscheiden. Soziale Konflikte sind vorprogrammiert. Um das Beispiel Indien aufzugreifen: Hier geraten regelmäßig die muslimischen Migranten aus Bangladesch in Konflikt mit den hinduistischen Einwohnern Indiens. Um wie viel stärker werden Ressentiments und Feindseligkeiten ausfallen, wenn der Tisch immer weniger reich gedeckt ist? Wenn immer mehr Menschen sich immer weniger Nahrung, Wasser und Boden teilen müssen?

Verstärkt wird das Problem dadurch, dass Umweltmigration in der internationalen Politik bisher kaum wahrgenommen wird. Das ist erstaunlich, bedenkt man, dass die UN bereits bis zum Jahr 2010 die Zahl der Umweltflüchtlinge auf 50 Millionen schätzte. Wie viele es bis heute tatsächlich sind, weiß niemand so genau.
Bisher weigern sich die Vereinten Nationen, diesen Abwanderern überhaupt den Status „Flüchtling“ zu verleihen. Artikel 1 der Genfer Konvention versteht unter „Flüchtling“ eine Person, die aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder aufgrund ihrer politischen Überzeugungen in ihrem Heimatland verfolgt wird. Um den Status politischer Flüchtlinge nicht zu gefährden, wird der Begriff des „Umweltflüchtlings“ tunlichst vermieden. Es wird strikt getrennt nach „Flüchtling“ und „Migrant“. Ein Migrant verlasse seine Heimat freiwillig, um sich anderswo ein besseres Leben aufzubauen. Ein Flüchtling hingegen fliehe gezwungenermaßen vor Verfolgung und kann auch nicht ohne weiteres in seine Heimat zurück. Müsste aber die wirtschaftliche Not, die unweigerlich aus der Zerstörung der Umwelt erwächst, nicht auch als „erzwungene Flucht“ definiert werden? Und wohin sollten Menschen zurückkehren, wenn ihr Land bis zur Verödung ausgebeutet oder sämtlicher Boden verseucht ist?

Ohne Anerkennung des Flüchtlingsstatus fehlt ein überstaatliches Rechts- und Druckmittel – besonders problematisch ist dies hinsichtlich des Umgangs mit Umweltmigranten. Wer sollte sich verantwortlich fühlen, sie in seinem Land angemessen aufzunehmen? „Wer soll wen wie schützen?“, ist eine Frage, die nicht geklärt ist. Und Europa? Würden wir ohne weiteres Menschen aufnehmen? Oder würde die Abschottungsmethode zum Einsatz kommen und die Grenzen dicht gemacht werden? Würden wir Menschen vor unserer eigenen Haustür verhungern lassen?

Auf lange Sicht wird unsere Welt kleiner werden, die Ausweichmöglichkeiten überschaubarer. Es besteht aber bereits jetzt die Notwendigkeit, sich geeignete Strategien zu überlegen. Damit sind nicht nur ausgeklügelte Frühwarnsysteme und Evakuierungspläne gemeint, um sich für den Fall der Fälle zu rüsten. Um für den schleichenden Wandel unserer Welt gewappnet zu sein – zumindest besser als wir es bisher sind – müsste auch die internationale Flüchtlingspolitik auf den Prüfstand. Die Aufgabe verlangt die Aufmerksamkeit aller. Sonst könnte später nur das Recht des Stärkeren zählen. Und in diesem Punkt sollten wir nicht auf unsere technische Überlegenheit setzen. Eine nukleare Bedrohung ist in unserem Land so wenig ausgeschlossen, wie bei unseren unmittelbaren Nachbarn. Taifune und Erdbeben stellen dabei zwar für uns ein geringeres Risiko dar wie für die Japaner. Aber der Begriff „Restrisiko“ dürfte sich seit dem 11. März als Euphemismus für eine lebensgefährliche Bedrohung enttarnt haben. Und sollte es tatsächlich bei uns zu einem Super-Gau kommen, müssten wir darauf hoffen, dass uns keiner die Tür vor der Nase zuschlägt.

Mittwoch, 16. März 2011

Von Tanja A. Wilken: Das Kreuz mit der Moral…


Ein Blog von Tanja A. Wilken

Vor noch nicht allzu langer Zeit machte die westliche Welt nur zu gern Geschäfte mit arabischen Diktatoren. Tunesiens Ben Ali etwa galt als verlässlicher Partner beim Kampf gegen das „terroristische“ Schreckgespenst. Der Zyniker möchte bemerken, dass man bei der Partnerschaft im „Kampf gegen den Terror“ den Terror gegenüber dem tunesischen Volk in Kauf nahm. Ali unterdrückte in seinem Land die muslimische Opposition. Und da in einer verqueren westlichen Logik undifferenziert alles „Muslimische“ nach dem 11. September 2001 als zumindest suspekt gilt, war damit dem „Gewissen“ Genüge getan. Aber wie es sich mit Despoten und Diktatoren nun einmal seit jeher verhält: vermeintliche politische und wirtschaftliche Stabilität hat einen hohen Preis. Beispielsweise politische Gefangennahme, Willkür, Zensur, Unterdrückung, Folter und dergleichen mehr sind Dinge, die sich weder mit demokratischen noch humanistischen Idealen vereinbaren lassen.

Moral ist ein bequemes Polster. Auf der sicheren Seite wissend, zeigte man von Zeit zu Zeit mit dem tugendbewehrten Zeigefinger – und schickte weiter Milliarden in Länder, in denen die eigene Bevölkerung sich an den Krümeln laben durfte, die die Herrscher und Führungsriegen übrig ließen.
Als sich das arabische Volk erhob und auf die Straßen wagte, um für sich endlich die Freiheiten und Grundsätze einzufordern, die für uns so selbstverständlich sind, reagierte unsere politische Klasse erst einmal gar nicht. Beinahe verschreckt, so schien es, beobachteten sie die revolutionären Demonstrationen. Während sich die Menschen in Tunesien und Ägypten selbst befreiten, reagierte Europa eher vorsichtig. Wenig Aufmunterung und moralische Unterstützung war anfangs zu hören, eher abwägendes Lamentieren und Beschwichtigen. „Warnen müsse man.“ –„Ach ja?“ –„Natürlich! Vor Chaos und dem Aufmarsch der Islamisten!“ Sicher…
Wovor sich manche tatsächlich fürchteten, das war wohl vor allem der Zusammenbruch der „alten Geschäftsgrundlage“. Es war bequem, sich auf die durch Geld und Waffen gekaufte Stabilität verlassen zu können. Bemerkenswerterweise diskutierten wir dann nicht über mögliche Hilfen beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft, über Unterstützung bei Wahlen, sondern über steigende Ölpreise und mögliche Versorgungsengpässe und über natürlich der Deutschen liebste Furcht, die hereinbrechenden „Flüchtlingsströme“. Was mich zu der Frage bringt, welche auf Vernunft (denn die gehört seit Kant zur Basis allen ethischen Handelns) basierenden Überlegungen die EU-Staaten überhaupt dazu brachte, mit einem Gewaltherrscher wie Muammar al-Gaddafi ein Abkommen zur Flüchtlingsabwehr auszuhandeln?! Wo waren da unsere moralischen Bedenken? Wo waren da die die Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz und Mitgefühl, welche die aufgeklärten Menschen der westlichen Demokratien so gern vor der stolz geschwellten Brust tragen?

Angenehm ist es, am moralisch längeren Hebel zu sitzen, auf „die da“ zu zeigen und seine eigene Rolle in dieser Geschichte geflissentlich zu übersehen. Dass die arabische Welt nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs die Fortsetzung der Ausbeutung, Teilung, ethnischen und religiösen Zerrissenheit vor allem den europäischen Kolonialherren und später den von diesen eingesetzten Despoten zu verdanken hat, ist historisches Allgemeingut. Knüppel und Gewehre, Angst und Terror mögen die Menschen lange Zeit stillhalten lassen, Zensur und Propaganda die Meinungen und das Weltbild formen und sabotieren. Aber früher oder später erhebt sich das Volk gegen diese Fesseln.

Und wie stehen wir jetzt da? Die vermeintlichen Torwächter der Demokratie und Menschenrechte? Haben wir nicht womöglich doch eine moralische Bringschuld? Jahrzehntelang lebte es sich für uns bequem auf dem Rücken der Unterdrückten. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Aber die Chancen stehen gut, dass wir einmal auf Augenhöhe mit freien Menschen der arabischen Welt an einem Tisch sitzen. Und dass sie unsere moralischen Ansprüche, mit denen wir so gern in unserer eigenen Gesellschaft hantieren, an uns selbst anlegen.


Kurzprofil Tanja A. Wilken:





Geboren und aufgewachsen bin ich nahe der ostfriesischen Küste. Auf`s Meer zu schauen, reichte mir nicht, um meinen Horizont zu erweitern. Also brach ich auf und studierte Philosophie und Germanistik und trieb mich einige Zeit auch am Theater herum. Der Elfenbeinturm der Wissenschaft war mir zu eng und die Theaterwelt zu selbstzentriert und so wurde ich schließlich auf den Markt der freien Schreiber gespült – was mir um so lieber ist, da denken, leben und arbeiten in festgefahrenen Spuren nicht zu meinen Stärken gehört.


Samstag, 5. März 2011

Gaddafi und ein Schaf

Es ist wieder Freitag. Ein guter Tag, sich mit Herrn K. zu treffen. Wir wollen über die Ereignisse in der arabischen Welt sprechen.

Herr K. steht vor der Kaffeebar, eine Zigarette zum Espresso.
"Ich bin Gelegenheitsraucher", erklärt er sich.
Ich bin verspätet. Er gibt mir seine Letzte.
"Ich auch", sage ich und möchte ihn sofort nach seiner Einschätzung zu Libyen fragen.
Er ist still, spricht leise. Seine Worte sind heute schwer zu verstehen.  Herr K. wirkt traurig.

Wir sprechen von Gaddafi, seinen irren Verschwörungstheorien, bezahlten Söldnern,  vielen Toten – und den kämpfenden Libyern.
"Es ist erst der Anfang", sagt Herr K, "Gaddafi ist verrückt."
Die Aufstände in Tunesien und Ägypten, mit denen niemand gerechnet habe, würden noch weitere Regime in Nahen Osten ergreifen.  Man müsse bedenken, dass alles noch sehr frisch sei. Wenige Wochen seien erst seit der Flucht von Ben Ali und Mubarak vergangen.
"Bedenken Sie auch, dass das arabische Volk sehr lange Zeit unterdrückt war. Es hatte sich so lange den Herrschern gefügt." Generationen ohne Gegenwehr.  Arabien war ein vergessener Teil der Welt.
"Und wir Araber hatten uns auch vergessen", sagt Herr K. und wirkt nicht glücklicher.

Mit einem Mal ändert sich seine Stimme.
"Aber dann kam die Revolution, mit der niemand gerechnet hat. " Diese habe auch in Deutschland Veränderungen bewirkt.
Herr K. erzählt von der Arabischen Liga in dieser Stadt. Es sind Freunde verschiedener Nationalitäten. Sie treffen sich regelmäßig. Manchmal spielen sie Billard.
"Wir ordnen uns in der Liga nicht einem einzelnen Land zu. Wir fühlen uns als Araber, die eines verbindet: unsere Sprache."

Er erzählt weiter, dass sie bei ihren Treffen, natürlich, über Deutschland sprechen. Darüber, was man hier alles geschaffen habe, wie geordnet das Land funktioniere. Die Industrie, die Ordnung, die Freiheit und eine friedliche Wiedervereinigung.  Dafür würden sie Deutschland aufrichtig bewundern.
"Und wir? Wir haben von all dem nichts."
Einspruch.
Er lächelt.
"Stimmt. Jetzt haben wir die Revolution. Und sie hat uns, uns unsere Würde zurückgegeben."
Nach diesem Gefühl hätten die Menschen im Nahen Osten gedürstet. Sie hätten sich nicht mehr unterdrücken lassen und von einem besseren Leben nur träumen wollen. Die Menschen mussten aufstehen, sich wehren. Endlich.
"Seit der Revolution wird uns wieder mit Respekt begegnet", sagt Herr K., der in Syrien geboren wurde und erzählt zum Schluss diese kleine Geschichte:

Vor wenigen Tagen ist er in der Stadt zufällig einem Bekannten aus der Türkei begegnet. Dieser habe ihn gefragt, ob er in nächster Zeit nach Kairo reisen werde. Bestimmt, habe Herr K. geantwortet. Der Bekannte, der eine sehr gute Position in einem Unternehmen am Ort besitzt, habe aus seinem Portemonnaie 150 Euro genommen.
"Kaufe dafür ein Schaf."
 "Ein Schaf?"
"Ja, ein Schaf", erwiderte der Bekannte, "dann lass es schlachten und verteile es an die Armen. Gib ihnen auch das restliche Geld"

Herr K. spricht lauter: "Verstehen Sie nun, wie die Revolution uns vereint hat?"