von Tanja A. Wilken
Jedes Jahrzehnt hat seine Geburtsstunde. Eine die nicht zur Silvesternacht mit dem Zwölfuhrschlag, mit Küssen, guten Wünschen und Umarmungen beginnt. Diese „Geburtsstunden“ tauchen in Chroniken auf, in Geschichtsbüchern. Sie markieren Wendepunkte, die das Leben Tausender, manchmal das von Millionen betreffen und nachhaltig verändern. Sie prägen das soziale Gefüge und liefern den Hintergrund für politische Entscheidungen. Und sie stellen uns auf eine Probe, von der oft erst die nachfolgenden Generationen beurteilen können, ob und wie wir sie bestanden haben. Der Knall, der das letzte Jahrzehnt einläutete, erfolgte am 11.09.2001, als um 8:46 Uhr ein Passagierflugzeug in den nördlichen Turm des World Trade Centers raste.
Der Betäubung folgten die Wut und der Wunsch danach, den Verantwortlichen habhaft zu werden. Auf das naturgegebene Recht auf Selbstverteidigung folgte die Hysterie. Die Vernunft erlag den Emotionen. Nicht nur den USA wurde ein empfindlicher Schlag verpasst. Nachdem sich al-Qaida offiziell zu den Anschlägen bekannte, nachdem Osama bin Laden offen die Kriegserklärung aussprach, nachdem klar wurde, dass die Menschen, welche die Flugzeuge entführt und gesteuert hatten, jahrelang unentdeckt in Europa gelebt und hinter einer bürgerlich-westlichen Fassade ihre Befehle zum großen Schlag erwartet hatten, musste sich jeder Staat der demokratischen Welt darauf gefasst machen, der nächste im Fadenkreuz zu sein.
Diese Situation veränderte unsere Sicht auf die Welt und sie drängte Fragen auf, die wir uns vorher tunlichst nicht gestellt hatten: Darf man vollbesetzte Passagierflugzeuge abschießen? Sind das Sammeln und unbefristete Speichern von Kontodaten, Internetsuchverläufen, Handyortungen eine Sache der nationalen Sicherheit? Ist Folter zulässig? Wenn ja, in welchem Maße, bevor es unangenehm für den Folternden wird? Soll die Bundeswehr im Innern eingesetzt werden dürfen? Darf man auf bloßen Verdacht „potenzielle Terroristen“ in Verwahrung nehmen? Ohne Anklage? Ohne Rechtsbeistand? Darf man als demokratische Gesellschaft Menschen bewusst Allgemeine Bürgerrechte absprechen, ja, allgemein anerkannte Menschenrechte? Die Veränderung, die sich vollzog, war auch sichtbar. An Szenen auf Flughäfen, in denen Menschen Plastiktüten mit abgefüllten Flüssigkeiten tragen. Am Anblick von Polizisten und Grenzschützern mit Maschinengewehren an öffentlichen Plätzen. An Nachrichtenbildern, die zeigen, wie die Büste Saddam Husseins enthauptet wird. An Aufnahmen von Soldaten, die triumphierend grinsend über am Boden kniende nackte Häftlinge stehen. An Bildern, die Kolonnen von mit Kapuzen verhüllten Häftlingen hinter Stacheldraht zeigen.
Osama bin Laden wollte den Krieg gegen den Westen. Gegen eine ihm verhasste Kultur. Knapp 3000 Menschenleben endeten am 11.09.2001. Man kann davon ausgehen, dass er mit einem Gegenschlag rechnete. Wer eine Supermacht herausfordert, zumal eine so stolze, kann bestimmte Schritte kalkulieren. Wäre es abwegig zu denken, dass bin Laden plante, uns auf sehr dünnes Eis zu führen, um seinen Verbündeten zu zeigen, wie es um unsere Werte und Ideale, um unser Freiheitsverständnis tatsächlich bestellt ist? Vielleicht war es nur Zufall. Aber vieles was in der Folge geschah, war nicht weniger als die Selbst-Demontage der Demokratie. Anstatt die Daumenschrauben kontinuierlich anzuziehen – indem die Nato-Staaten beispielsweise die Unterstützung bei der Jagd auf die Verantwortlichen einfordern, Sanktionen einleiten und erst als letztes Mittel das militärische Eingreifen in Betracht ziehen – folgte der war on terror, verpackt in kernigen Botschaften und Machtposen. Die moralische Keule traf jeden, der auch nur die leisesten Zweifel an den Mitteln des Feldzugs äußerte. Der eingeläutete Gegenschlag gegen den Terrorismus bescherte uns unangenehme Wahrheiten über das eigene Selbstverständnis und auf welch unsicherem Boden unsere Werte stehen, von denen wir doch so gern verlangen würden, dass sie sich alle Kulturen zu Eigen machen. Wir deckten neue Dimensionen von Zynismus, Ignoranz und Rechtschaffenheit auf, die wir vielleicht lieber nie wahrgenommen hätten. Amerikanische und europäische Rechtsgelehrte diskutierten ernsthaft über den staatlich legitimierten Einsatz von Folter. Das amerikanische Justizministerium gestattete die Verwahrung und „Befragung“ von Menschen auf einem eigens eingerichteten rechtsfreien Raum. Die CIA und anhängende Organisationen entführten Menschen, um sie in Länder zu senden, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen. Die Häftlinge von Guantánamo Bay wurden zu „ungesetzlichen Kombattanten“ erklärt, um ihnen so die Rechte zu entziehen, die jedem Kriegsgefangenen laut den Genfer Konventionen zustehen. Eine Regel nach der anderen wurde gebrochen. Ein Gesetz nach dem anderen gebeugt. Aber wäre es nicht naiv anzunehmen, dass man sich im Krieg tatsächlich immer an Regeln halte? Nun, sicher ist es das. Allerdings verhält es sich nun einmal auch so, dass die Kriege, welche im Rahmen des globalen Schlags gegen die Terroristen eingeläutet wurden, auf völkerrechtlich tönernen Füßen stehen. Saddam Hussein ist tot. Nur war der Angriff auf den Irak nicht gerechtfertigt, die entscheidenden Beweise gefälscht. Und Afghanistan? Zwar konstatierte der UN-Sicherheitsrat kurz nach 9/11 das die „Gefährdung des Weltfriedens“ gegeben sei – den „bewaffneten Angriff eines Staates“, welcher allein als rechtlicher Auslöser für Akte der Selbstverteidigung gelten könnte, sah er allerdings nicht. Um Angriff sowie Bündnisfall zu rechtfertigen, müssten die USA die aktive Beteiligung der afghanischen Regierung an den Terrorakten beweisen. Diesen Beweis sind sie bis heute schuldig geblieben.
„Der Zweck heiligt die Mittel.“ Aber welche Ziele wurden erreicht?
4792 Soldaten der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten starben im Irak. 2700 Amerikaner und Koalitionstruppenangehöriger bis zum heutigen Tage in Afghanistan. Die meisten waren zwischen 20 und 22 Jahren alt. Irak ist ein Land ohne Diktator – und ohne tief greifende Struktur. Der Krieg in Afghanistan nimmt kein Ende. Gestärkt wurde der Iran in seinen antiamerikanischen / antiisraelischen Ressentiments. Im Mai 2011 saßen immer noch 171 Häftlinge in Guantánamo Bay ein. Der CIA soll im Zuge der Antiterror-Ermittlungen etwa 3000 Menschen entführt haben.
Dieses Jahrzehnt ist zu Ende. Heute können Touristen und Hinterbliebene das Mahnmal am Ground Zero besuchen. Die Lücke in der Skyline Manhattans wird mit neuen Bauwerken gefüllt. Die sichtbaren Trümmer sind weggeschafft. „Wir müssen die Werte unserer Demokratie erhalten. Dies sollte das Maß unserer Stärke sein“, sagte Barack Obama in seiner Ansprache zum 10. Jahrestag der Anschläge. Bleibt zu hoffen, dass das neue Jahrzehnt genutzt wird, um uns unserer Werte wieder zu erinnern und sie unter den Trümmern hervorzuholen.
Jedes Jahrzehnt hat seine Geburtsstunde. Eine die nicht zur Silvesternacht mit dem Zwölfuhrschlag, mit Küssen, guten Wünschen und Umarmungen beginnt. Diese „Geburtsstunden“ tauchen in Chroniken auf, in Geschichtsbüchern. Sie markieren Wendepunkte, die das Leben Tausender, manchmal das von Millionen betreffen und nachhaltig verändern. Sie prägen das soziale Gefüge und liefern den Hintergrund für politische Entscheidungen. Und sie stellen uns auf eine Probe, von der oft erst die nachfolgenden Generationen beurteilen können, ob und wie wir sie bestanden haben. Der Knall, der das letzte Jahrzehnt einläutete, erfolgte am 11.09.2001, als um 8:46 Uhr ein Passagierflugzeug in den nördlichen Turm des World Trade Centers raste.
Der Betäubung folgten die Wut und der Wunsch danach, den Verantwortlichen habhaft zu werden. Auf das naturgegebene Recht auf Selbstverteidigung folgte die Hysterie. Die Vernunft erlag den Emotionen. Nicht nur den USA wurde ein empfindlicher Schlag verpasst. Nachdem sich al-Qaida offiziell zu den Anschlägen bekannte, nachdem Osama bin Laden offen die Kriegserklärung aussprach, nachdem klar wurde, dass die Menschen, welche die Flugzeuge entführt und gesteuert hatten, jahrelang unentdeckt in Europa gelebt und hinter einer bürgerlich-westlichen Fassade ihre Befehle zum großen Schlag erwartet hatten, musste sich jeder Staat der demokratischen Welt darauf gefasst machen, der nächste im Fadenkreuz zu sein.
Diese Situation veränderte unsere Sicht auf die Welt und sie drängte Fragen auf, die wir uns vorher tunlichst nicht gestellt hatten: Darf man vollbesetzte Passagierflugzeuge abschießen? Sind das Sammeln und unbefristete Speichern von Kontodaten, Internetsuchverläufen, Handyortungen eine Sache der nationalen Sicherheit? Ist Folter zulässig? Wenn ja, in welchem Maße, bevor es unangenehm für den Folternden wird? Soll die Bundeswehr im Innern eingesetzt werden dürfen? Darf man auf bloßen Verdacht „potenzielle Terroristen“ in Verwahrung nehmen? Ohne Anklage? Ohne Rechtsbeistand? Darf man als demokratische Gesellschaft Menschen bewusst Allgemeine Bürgerrechte absprechen, ja, allgemein anerkannte Menschenrechte? Die Veränderung, die sich vollzog, war auch sichtbar. An Szenen auf Flughäfen, in denen Menschen Plastiktüten mit abgefüllten Flüssigkeiten tragen. Am Anblick von Polizisten und Grenzschützern mit Maschinengewehren an öffentlichen Plätzen. An Nachrichtenbildern, die zeigen, wie die Büste Saddam Husseins enthauptet wird. An Aufnahmen von Soldaten, die triumphierend grinsend über am Boden kniende nackte Häftlinge stehen. An Bildern, die Kolonnen von mit Kapuzen verhüllten Häftlingen hinter Stacheldraht zeigen.
Osama bin Laden wollte den Krieg gegen den Westen. Gegen eine ihm verhasste Kultur. Knapp 3000 Menschenleben endeten am 11.09.2001. Man kann davon ausgehen, dass er mit einem Gegenschlag rechnete. Wer eine Supermacht herausfordert, zumal eine so stolze, kann bestimmte Schritte kalkulieren. Wäre es abwegig zu denken, dass bin Laden plante, uns auf sehr dünnes Eis zu führen, um seinen Verbündeten zu zeigen, wie es um unsere Werte und Ideale, um unser Freiheitsverständnis tatsächlich bestellt ist? Vielleicht war es nur Zufall. Aber vieles was in der Folge geschah, war nicht weniger als die Selbst-Demontage der Demokratie. Anstatt die Daumenschrauben kontinuierlich anzuziehen – indem die Nato-Staaten beispielsweise die Unterstützung bei der Jagd auf die Verantwortlichen einfordern, Sanktionen einleiten und erst als letztes Mittel das militärische Eingreifen in Betracht ziehen – folgte der war on terror, verpackt in kernigen Botschaften und Machtposen. Die moralische Keule traf jeden, der auch nur die leisesten Zweifel an den Mitteln des Feldzugs äußerte. Der eingeläutete Gegenschlag gegen den Terrorismus bescherte uns unangenehme Wahrheiten über das eigene Selbstverständnis und auf welch unsicherem Boden unsere Werte stehen, von denen wir doch so gern verlangen würden, dass sie sich alle Kulturen zu Eigen machen. Wir deckten neue Dimensionen von Zynismus, Ignoranz und Rechtschaffenheit auf, die wir vielleicht lieber nie wahrgenommen hätten. Amerikanische und europäische Rechtsgelehrte diskutierten ernsthaft über den staatlich legitimierten Einsatz von Folter. Das amerikanische Justizministerium gestattete die Verwahrung und „Befragung“ von Menschen auf einem eigens eingerichteten rechtsfreien Raum. Die CIA und anhängende Organisationen entführten Menschen, um sie in Länder zu senden, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen. Die Häftlinge von Guantánamo Bay wurden zu „ungesetzlichen Kombattanten“ erklärt, um ihnen so die Rechte zu entziehen, die jedem Kriegsgefangenen laut den Genfer Konventionen zustehen. Eine Regel nach der anderen wurde gebrochen. Ein Gesetz nach dem anderen gebeugt. Aber wäre es nicht naiv anzunehmen, dass man sich im Krieg tatsächlich immer an Regeln halte? Nun, sicher ist es das. Allerdings verhält es sich nun einmal auch so, dass die Kriege, welche im Rahmen des globalen Schlags gegen die Terroristen eingeläutet wurden, auf völkerrechtlich tönernen Füßen stehen. Saddam Hussein ist tot. Nur war der Angriff auf den Irak nicht gerechtfertigt, die entscheidenden Beweise gefälscht. Und Afghanistan? Zwar konstatierte der UN-Sicherheitsrat kurz nach 9/11 das die „Gefährdung des Weltfriedens“ gegeben sei – den „bewaffneten Angriff eines Staates“, welcher allein als rechtlicher Auslöser für Akte der Selbstverteidigung gelten könnte, sah er allerdings nicht. Um Angriff sowie Bündnisfall zu rechtfertigen, müssten die USA die aktive Beteiligung der afghanischen Regierung an den Terrorakten beweisen. Diesen Beweis sind sie bis heute schuldig geblieben.
„Der Zweck heiligt die Mittel.“ Aber welche Ziele wurden erreicht?
4792 Soldaten der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten starben im Irak. 2700 Amerikaner und Koalitionstruppenangehöriger bis zum heutigen Tage in Afghanistan. Die meisten waren zwischen 20 und 22 Jahren alt. Irak ist ein Land ohne Diktator – und ohne tief greifende Struktur. Der Krieg in Afghanistan nimmt kein Ende. Gestärkt wurde der Iran in seinen antiamerikanischen / antiisraelischen Ressentiments. Im Mai 2011 saßen immer noch 171 Häftlinge in Guantánamo Bay ein. Der CIA soll im Zuge der Antiterror-Ermittlungen etwa 3000 Menschen entführt haben.
Dieses Jahrzehnt ist zu Ende. Heute können Touristen und Hinterbliebene das Mahnmal am Ground Zero besuchen. Die Lücke in der Skyline Manhattans wird mit neuen Bauwerken gefüllt. Die sichtbaren Trümmer sind weggeschafft. „Wir müssen die Werte unserer Demokratie erhalten. Dies sollte das Maß unserer Stärke sein“, sagte Barack Obama in seiner Ansprache zum 10. Jahrestag der Anschläge. Bleibt zu hoffen, dass das neue Jahrzehnt genutzt wird, um uns unserer Werte wieder zu erinnern und sie unter den Trümmern hervorzuholen.